Österreichs Politik dreht durch

Facebook-Fakes, Slim-Fit-Feschismus und die abhanden gekommene Faktenwelt - Ein Kommentar

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Für die Leserinnen und Leser außerhalb der Alpenrepublik: In Österreich spielt sich im Moment eine einmalige Story mit den Ingredienzen Geld, Macht und Manipulation ab (Schwarze Propaganda im Wahlkampf).

Die Keywords: Facebook-Fakeseiten, Israel-Connections, Slim-Fit-"Feschismus", Energie-Start-up-Firmen, semikriminelle Milliardäre.

Die Akteure: Es betrifft niemand Geringeren als die Spitzen des Staates und der Medien. Den Bundeskanzler, von dem niemand mehr weiß, was er wusste und weiß. Einen israelischen Politberater, der Rätsel aufgibt, vielleicht sich über alles totlacht. Einen Medienmogul, der nicht ganz zu Unrecht beleidigt ist. Eine Bundeskanzler-Gattin. Einen jungen politischen Senkrechtstarter. Und viele sprachlose Journalisten und empörte Bürger.

DIE ENTHÜLLUNG VOM 30.09.2017. Eine angebliche Pro-Sebastian-Kurz- und eine angebliche Kontra-Sebastian-Kurz-Facebook-Fanseite, und beides lanciert von einer israelisch-österreichischen Underground-Truppe im direkten oder indirekten Auftrag der SPÖ, mit Beteiligung eines Politberaters, der zumindest mit einem Fuß in der Kriminalität steht. Eine Bundeskanzler-Gattin mit ihrem ebenfalls israelisch-österreichischen Firmengeflecht, mit oder ohne Beteiligung eines semikriminellen Milliardärs. - Stünde es in einem österreichischen Politkrimi, hätte man den Autor glatt als Übertreibungskünstler verrissen: Zu sehr an den Haaren herbei gezogen sei das Ganze ...

Was ist hier noch Realität?

Postmodernisten und Konstruktivisten wissen: Sie ist uns endgültig abhandengekommen. Die Realität von einst sind heute nur noch Versionen von Wirklichkeit.

VERSION 1: Politberater Tal Silberstein, beleidigt, dass die SPÖ nach seiner Verhaftung nicht mehr zu ihm gehalten hat, und im Wissen darum, dass sein verborgenes Agieren nun eh für immer Geschichte ist (dieses Geschäftsmodell also geplatzt ist), plante seine eigene Selbstzerstörung und/oder einen Rachefeldzug, indem er SPÖ und ÖVP gegeneinander ausspielte, also auf zwei Hochzeiten tanzte.

Der SPÖ riet er, die Facebook-Seiten jetzt nicht abzustellen, das wäre erst recht verdächtig. Der ÖVP sagte er: "Ich weiß jetzt, wie ihr die Wahlen mit Sicherheit gewinnen werdet: Ich habe der SPÖ soeben erfolgreich eingeredet, dass sie die beiden peinlichen Facebook-Seiten weiterlaufen lassen soll, um den Verdacht jetzt nicht auf mich und sie als Urheber zu lenken. Wir verschärfen jetzt den Ton dort, und zwei Wochen vor der Wahl outen wir das als SPÖ-Machwerk.

Genial, oder? Wie viel könnte Kurz und seinem Team das wert gewesen sein? (Version 1 setzt voraus, dass nur ganz wenige oder gar nur eine Person innerhalb der SPÖ von Tal Silbersteins Kampagnenplänen wussten. Und dass sich nach der Verhaftung Silbersteins innerhalb der SPÖ niemand mehr um seine Hinterlassenschaften gekümmert hat.)

VERSION 2: Bundeskanzler Christian Kern und SPÖ-Wahlkampfboss Georg Niedermühlbichler lügen. Sie haben vom Konzept gewusst und auch noch tatsächlich 500.000,-- Euro bewilligt. Bei Version 2 gibt es zwei Unterversionen:

VERSION 2.1: Kern und Niedermühlbichler kannten die Inhalte der Seiten und fanden das lustig. Sie ließen sich vom Politberater ernsthaft einreden, dass man das jetzt so mache. Dann wären sie naiv, ohne reifes Urteilsvermögen und politisch nicht mehr länger ernst zu nehmen. Ein roter Bundeskanzler, der Xenophobie und Antisemitismus als Wahlkampfmittel billigt? Kann so jemand Bundeskanzler bleiben? Nein.

VERSION 2.2: Diese ist innerhalb der Version 2 wahrscheinlicher: Beide wussten von den Seiten, fanden aber keine Zeit, diese selbst zu besuchen bzw. haben den Überblick verloren. Dies spräche aber für schlechte Medienkompetenz und/oder ein ganz schlechtes Berichtssystem bzw. eine ganz schlechte Kommunikationskaskade innerhalb der SPÖ. Kann so jemand Bundeskanzler bleiben? Nein. Denn es bliebe auch hier der Nachweis der Lüge!

VERSION 3: Silberstein und ein ominöser Dirty-Campaigning-Virtuose namens Peter Puller agierten tatsächlich in einem Paralleluniversum auf eigene Faust. Dann wären sie fast schon revolutionäre Subversive: Es wäre ihnen gelungen, mutmaßlich mit Parteigeldern ein manipulatives Doppel-Experiment auf Facebook zu lancieren, eine Art Milgram-Experiment der Politberater-Kaste, nach dem Motto: "Schauen wir einmal, wie weit wir gehen können." Einige der "Einfälle", wie etwa die Abstimmung zur Schließung des Brenners, haben ja rückblickend fast einen künstlerisch-aktionistischen Wert. Also mir gefällt Version 3 am besten!

Liebe Herren in Wien, Ihr habt hier eine kranke Welt konstruiert

Spaß beiseite: Ich fordere von der SPÖ sofort die Offenlegung des Kommunikationskonzepts von Tal Silberstein, von mir aus mit Schwärzung der Namen, und der geflossenen Summen! Nur das wäre die jetzt angebrachte Transparenz.

Vielleicht zeigen uns Silberstein, Puller & Co, dass wir alle umdenken müssen. Die Prämisse wäre: Wie Harald Schmidt neulich sagte, Inhalte interessieren niemanden mehr. Die haben ausgedient. Interessant sind nur noch das Spiel der Köpfe in ihren Slim-Fit-Anzügen und die Budgets dahinter. Und dann kommt die große Trickkiste: Erlaubt ist alles, was Wählerstimmen (und damit Geld und Einfluss) bringt und vermehrt. Der Wähler selbst, der zur Wahl"urne" geht, ist längst eine Witzfigur in diesem Spiel geworden.

Man übertrage das auf die Wirtschaft: Unternehmen A muss nicht mehr selber gut sein, sondern soll lieber fiktive Fanseiten über den Mitbewerber B basteln, die dann so schräg werden, dass sich die Fans von Mitbewerber B ab- und Mitbewerber A zuwenden. Das ist schon Wahnsinn und ein Simulakrum neuer Ordnung (obwohl es letztlich Phänomene wie Klickbetrug und Fake-Rezensionen ja schon gibt).

Noch irrer wäre dann aber, dass der Mitbewerber B der wahre Auftraggeber ist, damit er dann die widerlichen Praktiken von Unternehmen A anprangern kann. Das ist nun der Spin dritter Ordnung, das ist der Plot der Matrix-Trilogie und dann kann das ewig so hin- und heroszillieren.

So oder so: Liebe Herren in Wien, Ihr habt hier eine kranke Welt konstruiert. Das ist nicht die Welt, in die ich meine Kinder hineinsozialisieren will.

Wenn Ihr diese Welt wollt, dann ändert das Schulsystem: Führt Fächer wie "richtig Lügen" statt richtig Schreiben ein, lehrt Manipulation statt Mathematik, benotet "Intrigieren" statt Benehmen, Betragen oder Sozialkompetenz.

Ich kann niemandem in der Politik mehr glauben. Es könnte immer sein, dass alle anders reden, als sie denken (= lügen). Es bleibt nur die eine Hoffnung, dass das nunmehr erschütterte Grundvertrauen zu etwas Neuem führt. Österreich sollte kollektiv nicht zur Wahl gehen.

Der Autor Stefan Weber ist Plagiatsgutachter. Er hat u.a. die Diplomarbeiten von Bundeskanzler Christian Kern und Kanzleramtsminister Thomas Drozda überprüft.