Deutschland im Herbst

Berliner Mauer (Mauerdreieck Liesenstr./Gartenstr.), 1980. Foto: Axb / CC BY-SA 3.0

Deutschland feiert wieder einmal den Tag der deutschen Einheit, will aber nicht wahrhaben, dass es diese Einheit immer noch nicht gibt

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Es ist Oktober geworden, aber die politische Ernte ist in diesem Jahr ausgefallen. Das Klima war nicht schlecht, aber der intellektuelle Dung hat gefehlt, den der karge Boden gebraucht hätte, um eine gute Ernte zu erlauben. Deutschland hat sich verhakt im Klein-Klein, in eingebildeten Problemen auf der einen Seite und in Widersprüchen, die sich daraus ergeben, dass man die wirklichen Probleme systematisch leugnet.

Und das betrifft nicht nur Europa, wo das deutsche Leugnen zu einer nicht enden wollenden Krise geführt hat. Nein, es betrifft Deutschland selbst, wo zehn Jahre vor der Europäischen Währungsunion schon einmal eine Währungsunion, die deutsch-deutsche nämlich, aufgrund intellektueller Defizite gegen die Wand gefahren wurde.

Heute wird man wieder mit großen Worten die deutsche Einheit feiern, obwohl die Wahl vom letzten Sonntag im September besser als tausend Studien gezeigt hat, dass es sie immer noch nicht gibt. Wenn in Sachsen, wo man so stolz auf die Errungenschaften der deutschen Einheit ist, eine Partei in Führung liegt, deren Konzept fast nur aus Parolen wie der besteht, dass man die "Nation" zurückgewinnen oder Deutschland wieder den Deutschen zurückgeben müsse, weiß man als vernünftiger Mensch, was die Stunde geschlagen hat.

Von Einheit kann keine Rede sein

Nicht die Stunde der Flüchtlingspolitik, sondern die Stunde der Einheitspolitik. Die Einheit steht nämlich immer noch nur auf dem Papier. Schon ein paar Jahre nach dem westdeutschen Blitzsieg war jeder froh, wenn die Ostdeutschen die Klappe hielten und richtig wählten. Wobei man ihnen für eine Zeit sogar zugestand, links zu wählen, denn das, so die Hoffnung, würde sich auswachsen, wenn die alten Kader erst einmal nicht mehr sind.

Doch auch nach fast 30 Jahren kann von Einheit keine Rede sein. Im Herbst des Jahres 2000 habe ich dazu geschrieben (hier):

Chancengleichheit für die Zukunft heißt das neue Wunderwort der deutschen Einigung, seit vor einigen Wochen der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der neuen Länder insgeheim eingestehen mussten, dass Aufholen kein politisches Ziel mehr ist.

Chancengleichheit ohne Aufholen kann es aber gar nicht geben! Wenn zwei um die Wette rennen, die beim Start ungleiche Chancen hatten, und der am Start schon Bevorteilte ist bei der Hälfte der Strecke 50 Meter voraus, kann Chancengleichheit für die zweite Hälfte der Strecke doch wohl nur bedeuten, dass die 50 Meter Abstand irgendwie ausgeglichen werden müssen. Soll der erste nicht langsamer laufen, muss der zweite Hilfe zum Aufholen bekommen.

Solange es nicht gleich viele wettbewerbsfähige Unternehmen in Ost wie West gibt, solange die Arbeitslosenquote nicht angeglichen ist, solange die Bürger in Ostdeutschland nicht ein ähnlich hohes Vermögen wie im Westen haben, solange die Länder und Kommunen in den neuen Ländern nicht auf eigenen Füßen stehen können, solange gibt es keine Chancengleichheit, mögen die Politiker die Worte verdrehen und verwenden wie sie wollen.

Die nicht vorhandene Chancengleichheit wird in den nächsten zehn Jahren gravierende Auswirkungen vor allem für Ostdeutschland haben. Einerseits wird die Spaltung der Gesellschaft in teilhabende und nicht-teilhabende Bürger noch weit größer als im Westen werden. Andererseits werden die Jungen nicht auf Dauer benachteiligte deutsche Ost-Bürger bleiben wollen und ihre Chance im Westen suchen. Abwandern werden aber die Chancenreichen, die gut Ausgebildeten, die, die sich überall zurechtfinden.

Zurück bleiben die anderen. Die Chancenlosen, die schlecht Ausgebildeten, die, die sich nur in ihrem engsten Umkreis zurechtfinden. Ostdeutschland wird dann das Eldorado der Chancenlosen sein, verstrickt in ein Netz von provinzieller Enge und diebischer Schadenfreude darüber, dass die "Geldsäcke aus dem Westen die Stütze" zahlen müssen. Inseln der Prosperität wird es geben, aber man wird sie abschotten müssen gegenüber den Regionen, in denen der Frust über die eigene Perspektivlosigkeit umschlägt in Hass auf alle, die den Sprung in die globale Vermögens - und Kommunikationsgesellschaft geschafft haben.

Der natürliche politische Gegenpol zur entnationalisierten und durchglobalisierten Gesellschaft der Erfolgreichen ist die nationale, allem Fremden feindlich gegenüberstehende Gesellschaft der Underdogs. Verbindet einer "national" und "sozial" auf eine attraktive Weise, trifft er in Ostdeutschland auf den besten Nährboden, den man sich denken kann.

Heiner Flassbeck, Die Unfähigkeit zur Solidarität

Doch man kann sicher sein, dass nach der Wahl in diesem Jahr wieder die falschen politischen Schlussfolgerungen gezogen werden. Die CDU wird nach rechts rücken, um ihrerseits die Nation zu retten. Noch mehr Härte gegenüber den Asylsuchenden wird die Folge sein, noch mehr Ausweisungen in noch mehr "sichere Herkunftsländer" als "Beweis" für ihre Bereitschaft, sich mit den Sorgen der ostdeutschen Bevölkerung auseinanderzusetzen.

Die wirkliche Sorge gilt nicht den Flüchtlingen, sondern dem Alltag

Um Flüchtlingspolitik aber geht es in erster Linie gar nicht. Die wirkliche Sorge der Ostdeutschen, so wie vieler anderer in Deutschland gilt nicht einer abstrakten Flüchtlingsgefahr, sondern ihrem Alltag. Wer sich mit ein paar hundert Euro im Monat in einer Gesellschaft durchschlagen muss, die ihm Tag für Tag eintrichtert, jeder sei seines Glückes Schmied und der Tüchtige werde in diesem System belohnt, der empfindet alles als Bedrohung, was von außen kommt und seinen prekären Status noch einmal gefährden könnte.

Aber Armut darf es in diesem reichen Land nicht geben, weswegen wir lieber nicht über die Armut sprechen und was man dagegen tun kann, sondern wir lamentieren lieber über die vermeintlich größte Sorge der Armen, die Flüchtlinge nämlich. Und damit kopieren die "Parteien der Mitte" exakt die AfD, die in sozialer Hinsicht die kälteste Partei überhaupt ist, sich aber wegen ihrer Ansprache des Flüchtlingsproblems als Anwalt der Armen und Zurückgebliebenen geriert.

Und das ist so, weil für die "Parteien der Mitte (einschließlich der SPD)" nichts wichtiger ist, als die Fiktion aufrechtzuerhalten, die Armut in der Mitte unserer Gesellschaft sei notwendig, sei ein Garant für eine gute Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.