"Negative Langzeitkonsequenzen bis in die neuronalen Strukturen hinein"

Grafik: TP

Ein Interview mit dem Computerkritiker Werner Seppmann - Teil 2

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Der Soziologe Werner Seppmann verwertet für sein Buch Kritik des Computers unter anderem Ergebnisse aus der Hirnforschung und beschäftigt sich mit möglichen Folgen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt. Teil 2 des Gesprächs.

Herr Seppmann, auf der einen Seite bezweifeln Sie in Ihrem Buch die Verallgemeinerungsfähigkeit von Aussagen aus der Gehirnforschung, andererseits stützen Sie sich selbst auf deren Ergebnisse. Beißt sich da Ihre Katze nicht ein wenig in den Schwanz? Haben sich nicht viele der neurobiologischen Theorien und Schlussfolgerungen als problematisch herausgestellt?

Werner Seppmann: Diese Frage ist berechtigt, aber hinsichtlich des sozialtheoretischen Gebrauchswerts der Neurobiologie muss differenziert werden. In nicht wenigen Fällen ist der neurobiologische Diskurs tatsächlich problematisch. Aber: Auch ein Wannen-Bad kann zu üblen Verbrennungen führen, wenn das Wasser zu heiß ist. Aber deshalb brauche ich nicht auf ein Bad in einem angenehm temperiertem Badewasser verzichten. Es kommt nur auf das richtige Maß an. So ist das auch bei der neurobiologischen Forschung.

Es gibt unangemessene Verallgemeinerung von Forschungsergebnissen, aber auf der anderen Seite einen soliden Forschungsstrang, der unser Bild von den neuronalen Flankierungen des menschlichen Verhaltens bereichert. Aber wahrgenommen und medial kolportiert werden in der Regel nur die schrillen und maßlos übertreibenden Verallgemeinerungen, auf deren Grundlage auch die sachlich ungerechtfertigten Monopolansprüche bei der Erklärung personaler Reaktionsmuster erhoben werden, die in den extremsten Fällen als unmittelbarer Ausdruck neuronale Prozesse dargestellt werden: Pointiert gesagt wird unterstellt, dass nicht der Mensch denkt, handelt und reagiert, sondern sein Denken und Handeln nur der Ausdruck psychischer Automatismen wäre.

Es ist vulgärmaterialistischer Reduktionismus, wenn der Neurophysiologe Wolf Singer postuliert, dass alles, was dem Geistigen zugeschrieben wird, rein biologisch bedingt sei. Richtig ist, dass Intellektualität zu biologischen Vorgängen vermittelt ist, jedoch anders, als Singer unterstellt, aus den biologischen Vorgängen nicht ableitbar ist. Was das Geistige ausmacht, ist eben mehr als Biologie. Wäre es anders, wäre eine Unterscheidung zwischen beiden Seinsformen weder notwendig noch möglich.

Es ist Ausdruck der weitverbreiteten Akzeptanz von Scheinevidenzen, wenn Gerhard Roth, ein nicht weniger renommierter Neurobiologe als Singer, das Bewusstsein auf biochemische Prozesse reduziert wissen will, wenn er schreibt: "Bewusstsein im Sinne individuell erfahrbarer Erlebniszustände ist unabdingbar an Hirnaktivitäten gebunden." Zweifellos ist das richtig. Jedoch gemessen an dem dieser Aussage zugrunde liegen Erklärungsanspruch, ist diese Aussage, mit der das Psychische auf Biologie reduziert werden soll, banal. Denn mit gleicher Berechtigung ließe sich auch sagen, dass es keine Kriege in der Menschheitsgeschichte gegeben habe, in deren Verlauf die Kämpfenden nicht geatmet hätten. Auch das ist zweifellos richtig, sagt aber natürlich nichts über die Tatsache des Krieges und noch weniger über seine Ursachen und die Motivationsstrukturen der Kämpfenden aus.

Der Mensch als "gesellschaftliches Naturwesen" (Marx) ist zwar ohne seine biologischen Voraussetzungen nicht zu begreifen: Sie sind eine unabdingbare Seite seiner Existenz - und zwar in gleicher Weise wie für die Ameisen und Bienen, für Elefanten oder Waschbären. Aber diese irreversible Vermitteltheit zur Natur macht nur einen Teil menschlicher Existenz aus und stellt nicht deren zentrale Spezifik dar. Genetisch unterscheidet den Menschen kaum etwas vom Affen, aber fundamental sind die Differenzen in den "weichen" Aspekte seiner Existenz: Empathie, ethische Reflexionsfähigkeit, sein Bedürfnis nach ästhetischer Lebensgestaltung, abwägende Voraussicht, reflektiertes Handeln, aktive Umgestaltung der Naturbasis und planende Gestaltung seiner Lebensverhältnisse.

Diese qualitativen Merkmale sind zwar zu den biologischen Existenzvoraussetzungen vermittelt (in rudimentärer Form auch bei Primaten teilweise schon vorhanden), jedoch nicht aus ihnen zu erklären - und deshalb können sie auch von algorithmen-gesteuerten Systemen (Stichwort "Künstliche Intelligenz") nicht erfasst und rekonstruiert werden: Sie stellen etwas qualitativ Neues und Unabgeleitetes dar.

"Gestört wird die Entwicklung von Ich-Funktionen"

Welchen Erklärungswert hat dann noch die Neurobiologie?

Werner Seppmann: Gegen den biologistischen Reduktionismus der Roths und Singers sind viele und in ihrer Tendenz berechtigte Einwände vorgebracht worden. Deshalb sind es auch nicht diese unsachgemäß verallgemeinernden Konstruktionen, auf die ich mich beziehe. Vielmehr sind es die Resultate seriöser neurobiologischer Forschungen, die dokumentieren, wie problematische Kultur- und Sozialentwicklungen sich auf die Gehirnstrukturen auswirken.

Die neurobiologische Forschung hat zum Beispiel gezeigt, dass Armuts- und soziale Bedrängungserfahrungen nicht nur in einem unmittelbaren Sinne die psychische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen prägen, indem sie resignative Lebenseinstellungen und eine tiefsitzende Unsicherheit und Angst fundieren, sondern mit negativen Langzeitkonsequenzen bis in die neuronalen Strukturen hinein wirken.

Die Prinzipien negativer Vergesellschaftung - so ließe sich pointiert sagen - kriechen in die psychische Apparatur von Kindern hinein: Wenn sie in Armutsverhältnissen leben, wird deren Entwicklung durch chronische Stressoren gestört und fundamentale synaptische Verbindungen unterbleiben. Dadurch erlangt das Gehirn nicht den optimalen Stand an Differenziertheit, der für höhere kognitive Funktionen und emotionale Leistungen unverzichtbar ist. Gestört wird auch die Entwicklung von Ich-Funktionen sowie die Ausprägung von Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Diese Erkenntnisse sind wichtige Erweiterungen des sozialwissenschaftlichen Reflexionshorizonts.

Aber: Die neuronalen Abläufe können nicht als Dreh- und Angelpunkt des Geschehens begriffen werden, sondern sie haben ihre Referenzebene in sozio-ökonomischen Beziehungsgeflechten sowie realen gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen: Von ihnen werden diese Prozesse in den Gehirnregionen gewissermaßen stimuliert. Bleibt das tatsächliche Beziehungs- und Einflussverhältnis unberücksichtigt, versandet die naturwissenschaftliche Beschreibung in einem sachfremden Erklärungsschema, das sich aber gerade deshalb für unangemessene Monopolansprüche ebenso wie für mediale Sensationseffekte eignet.

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