Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt: Ein V-Mann als Aufhetzer?

Foto: Andreas Trojak / CC BY 2.0

Laut Medienberichten soll der V-Mann in der Salafisten-Gruppe, mit der Anis Amri engen Kontakt hatte, zu Anschlägen angestachelt haben

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Vor einer Woche zitierte der Spiegel in seinem Artikel über den Abschlussbericht des Sonderbeauftragten des Berliner Senats für den Fall Anis Amri, Bruno Jost, eine Menge Vokabeln aus dem 80-seitigen Papier, um die Dimension des Behördenversagens auf Begriffe zu bringen: "Mangelhaft", "unzureichend", "verspätet", "unterblieben", fehlerhaft", "unprofessionell".

"Bizarr"

Der SZ-Kommentar bündelte den Effekt der Ermittlungspannen in die Aussage: "Es mutet bizarr an, wie lückenhaft die Überwachung von Amri gelaufen ist. Entsetzt liest man im Bericht die Aneinanderreihung von verpassten Gelegenheiten, Amri festzusetzen, ihn vielleicht in Haft zu nehmen."

Brav stellte die SZ im dickgedruckten Vorspann die Forderung: "Die Verantwortlichen müssen aus ihren Fehlern lernen". Beim Spiegel war man da etwas schärfer: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit", heißt es da, hätte man Anis Amri vor dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 aus dem Verkehr ziehen können.

Der Anstachler VP-01

Nun wird es noch viel bizzarer. Die neuesten Nachrichten zum Fall Amri deuten darauf hin, dass der Anschlag, nicht nur nicht verhindert, sondern von einem V-Mann möglicherweise angeregt oder angestiftet wurde - eine Vorgehensweise, die man aus der FBI-Arbeit kennt oder die einem Verdachts-Genre zugeordnet wird, das im Common Sense (gesunden Menschenverstand?) meist als "Verschwörungstheorien" abgetan wird - ein bisschen Boden will man doch in diesen verrückten Zeiten behalten ...

Dem zuwider läuft die Aussage aus Recherchen des rbb und der Berliner Morgenpost, wonach "eine wichtige Bezugsperson des Terroristen Anis Amri in der militanten Islamistenszene ein V-Mann des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen" war und besonders die Behauptung, dass diese Recherchen "belegen (...), dass die sogenannte Vertrauensperson VP-01 frühzeitig Islamisten zu Anschlägen in Deutschland angestachelt haben soll. Laut eines Zeugens war dabei auch von einem Anschlag mit einem Lkw die Rede".

Nicht belegt ist also die direkte Verbindung zum Anschlag, dass der V-Mann Anis Amri konkret zur LKW-Mordfahrt auf den Weihnachtsmarkt angestiftet hat. Dieser Vorwurf wird im Bericht des rbb mit "womöglich" relativiert:

Die vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA) auf den Terroristen Anis Amri angesetzte Vertrauensperson hat der Recherche zufolge diverse Mitglieder der IS-nahen Abu-Walaa-Gruppe und womöglich auch Amri selbst zu Anschlägen animiert.

rbb24

Von "Aufhetzen" ist die Rede. "Der V-Mann soll die Gruppe um Amri zu Anschlägen aufgehetzt haben", heißt es in der Überschrift zum Artikel. Und die Fakten? Aus den Ermittlungsakten, welche die Rechercheure offenbar einsehen konnten, ist demnach zu erfahren, dass ein Mitglied der Gruppe bereits kurz nach dem Anschlag gegenüber dem LKA ausgesagt habe, dass die Vertrauensperson mit dem Kürzel VP-01 "immer wieder" mitgeteilt habe, "dass man Anschläge in Deutschland verüben solle".

"Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag"

Dazu wird ein ehemaliger Anhänger der Abu-Walaa-Gruppe zitiert, der den Journalisten mitteilte, dass VP-01 sogar "der Radikalste" gewesen sein soll. Der Mann habe mehrmals zu Mitgliedern der Gruppe gesagt: "Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag."

Die Gruppenmitglieder werden aus der Perspektive dieser Quelle als daran wenig interessiert geschildert. Sie hätten nach Syrien zum Kämpfen ausreisen wollen und nicht über Anschläge in Deutschland gesprochen (tatsächlich galt Abu Waala als eine Art Reisebüro zum IS). Aber VP-01 habe laut der Quelle des rbb-Berichts mehrmals zu Mitgliedern der Gruppe gesagt: "Komm, du hast eh keinen Pass, mach hier was, mach einen Anschlag."

Zudem sei die Vertrauensperson des LKA "häufig mit Amri unterwegs gewesen und habe ihn in seine Unterkünfte gefahren".

Die Quelle

Das LKA Nordrhein-Westfalen unterstellt der Quelle, die offenbar in Verbindung mit der Abu-Walaa-Gruppe steht und in der Ermittlungsakte als "Zeuge" geführt wird, dass die Aussagen des Mannes "nicht richtig seien". Sie würden in der Absicht getätigt, "von eigenen strafrechtlichen Taten abzulenken".

Bestätigungen des Verhaltens des V-Mannes

Allerdings, so die Journalisten, würden drei Anwälte unabhängig voneinander grundsätzlich die Vorwürfe gegen die Vertrauensperson VP-01 bestätigen: Genannt werden der Düsseldorfer Strafrechtsanwalt Johannes Pausch, der Frankfurter Rechtsanwalt Ali Aydin und der Bonner Strafverteidiger Michael Murat Sertsöz.

Pausch bestätigt, dass der besagte V-Mann ein "förderndes Verhalten" gegenüber seinem Mandanten an den Tag gelegt haben soll. Ob und wie der Mandant, der wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlages verurteilt wurde, in den Fall Amri verwickelt ist, geht aus dem rbb-Bericht nicht hervor.

Aydin bestätigt aufgrund eigener Recherchen und mehrerer Quellen eine Aussage des V-Manns zu mehreren Personen aus der Abu Walaa-Gruppe: "Lasst uns diese Ungläubigen töten, wir brauchen gute Männer, damit wir hier in Deutschland Anschläge verüben können." Damit sei klar, dass der V-Mann zu Anschlägen "angestachelt" habe. Es müsse nun ermittelt werden, ob eine direkte Einwirkung von VP-01 auf Amri bezüglich des Berliner Anschlags vorliege.

Sertsöz bestätigt, dass auch sein Mandant berichtet habe, dass der V-Mann "ihn mehrfach aufgefordert habe, sich eine Waffe zu besorgen und 'Aktionen' durchzuführen". "So wie Mikail das Verhalten der VP-01 geschildert hat, handelte dieser wie ein agent provocateur im Dienste des Staates", wird Sertsöz wiedergegeben. Der Mandant des Bonner Strafverteidigers wurde laut rbb kürzlich wegen des Verbreitens von Terrorpropaganda verurteilt. Inwieweit er konkret mit dem Fall Anis Amri in Verbindung steht, wird nicht erwähnt

Vom LKA Nordrhein-Westfalen habe man mit Verweis auf laufende Gerichtsverfahren und den Untersuchungsausschuss im Fall Amri keine Auskünfte erhalten, so die Recherchegruppe des Rundfunks Berlin Brandenburg und der Berliner Morgenpost.