Proteste vor der Rada: Bildet sich ein neuer Maidan?

Protestcamp vor dem Parlament. Bild: Censor.net

Mit einem Zeltlager vor dem mit Hunderten von Polizisten geschützten ukrainischen Parlament werden der Rücktritt des Präsidenten und politische Reformen gefordert

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Was ist los in der Ukraine? Man bekommt den Eindruck, dass der Maidan wiedergekehrt ist. Das Parlament, die Rada, wird belagert von Protestierenden, die dort ein Zeltcamp aufgebaut haben. Das Parlament wird von Hunderten von Polizisten in mehreren Reihen gesichert. Dabei sind es nur ein paar hundert Demonstranten, die von dem ehemaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschvili angeführt werden.

Präsident Poroschenko hatte ihn zum Staatsbürger der Ukraine gemacht und als Gouverneur von Odessa eingesetzt, aber der eigenwilligen Politiker, der an den korrupten Strukturen in der Regierung scheiterte, trat zurück und versucht seitdem sein Comeback mit einer Ende 2016 gegründeten Partei "Bewegung der Neuen Kräfte". Poroschenko entzog ihm sicherheitshalber die Staatsbürgerschaft. Der nun staatenlose Politiker konnte schließlich aber Ende September doch wieder in die Ukraine von Polen aus gelangen.

Begonnen hatten die Proteste am 17. Oktober, als mehrere tausend Menschen sich vor der Rada versammelten, um die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität, Antikorruptionsgerichte und eine Reform des Wahlrechts zu verlangen. Beteiligt waren u.a. Anhänger der "Bewegung der neuen Kräfte", das Bataillon Donbass und die linke Gerechtigkeitspartei oder ehemalige Maidanaktivisten wie Yehor Viktorovych Soboliev von der Partei Samopomich. Eingeführt werden soll ein Verhältniswahl mit offenen Kandidatenlisten und eine Beschränkung der Wahlwerbung im Fernsehen, das von Oligarchen beherrscht wird. Auch der Milliardär Poroschenko besitzt den Fernsehsender 5 Kanal, von dem er sich beim Antritt seiner Präsidentschaft ebenso wenig trennte wie von seinen Unternehmen.

Saakaschwili forderte überdies den Rücktritt von Poroschenko, der Reformen unmöglich mache. Die Menschen hätten es satt, nach drei Jahren weiter nur "leere Versprechungen" zu hören. Schon vor der Versammlung hatte die Polizei die Zugangsstraßen gesperrt, um einen Automaidan zu verhindern. Und er erklärte, dass die Rada weiterhin belagert werde, wenn die Forderungen nicht sofort umgesetzt werden. Seitdem wurden vor der Rada Zelte aufgestellt, in denen die Protestierenden über Nacht bleiben, um die Belagerung fortzusetzen. Der Bereich wurde aber von der Polizei abgetrennt und jeder überprüft, der ihn betritt. Zudem muss ein Metalldetektor passiert werden. Generalstaatsanwalt Yurii Lutsenko begründete dies damit, dass man zwar einen friedlichen Protest gewährleisten müsse, aber Geheimdienstinformationen hätten gezeigt, dass unter dem Demonstranten "illegale Gang-Mitglieder" seien, die sich Waffen besorgt hätten. Alles müsse durch politischen Dialog erfolgen: "Gewalt tötet das Land."

Ausgerechnet Parlamentssprecher Andrij Parubij, Mitbegründer der rechtsextremen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, zusammen mit Dmytro Jarosch vom Rechten Sektor einer der rechten Hauptfiguren der Maidan-Proteste, verlangte freien und ungehinderten Zugang zur Rada. Er war für die gewalttätigen und teils mit Schusswaffen ausgestatteten Gruppen der Maidan-Bewegung mit verantwortlich, die alles getan hat, um die Blockaden aufrechtzuerhalten und die besetzen Gebäude zu verteidigen. Als Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates war er mitverantwortlich dafür, die Proteste in der Ostukraine, die zunächst wie die des Maidan begonnen hatten, militärisch durch eine "Antiterror-Operation" lösen zu wollen.

Protestversammlung am Donnerstagabend. Bild: YouTube-Video

Proteste sollen bis zur Umsetzung der Forderungen fortgesetzt werden

Am Mittwoch waren mehrere Protestierer festgenommen worden, weil sie Schutzschilde von Polizisten geklaut hatten und sie nicht mehr herausgeben wollten. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag soll ruhig verlaufen sein. Gestern hatten sich nach Angaben des Innenministeriums wieder 700 Protestierer versammelt. Das Zeltlager gibt es weiterhin.

Ob wegen des Drucks von der Straße oder nicht, so hat Poroschenko am Dienstag, als die Proteste vor der Rada begonnen haben, einen dringenden Gesetzentwurf eingereicht, der die Immunität der Abgeordneten wie gefordert aufhebt. Der Präsident erklärte, er habe schon vor zwei Jahren dies angestrebt. Gestern meldete er Erfolg, die Immunität wurde angenommen und kann nun vom Plenum verhandelt werden. Klar gestellt wurde allerdings, dass die Abgeordneten für Äußerungen und Abstimmungen im Parlament nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Und in Kraft gesetzt würde das Gesetz, sollte es tatsächlich verabschiedet werden, erst im Januar 2020. Kommentare geben dem Gesetz wenig Chancen, da eines der Motive, Abgeordneter zu werden, eben die Immunität zum Schutz des Vermögens sei. Abgelehnt wurden in der Rada aber Gesetzesentwürfe zur Reform des Wahlsystems. Auch hier wird sich nicht grundsätzlich etwas ändern, die Parteiführer werden kein Interesse an offenen Listen haben.

Saakaschwili gestern Abend vor dem Parlament. Screenshot aus YouTube-Video

Saakaschwili genügt die Verschleppung nicht, er verlangte erneut den Rücktritt von Poroschenko, wenn die anderen Forderungen nicht erfüllt werden. Im Innenministerium hegt man die Sorge, dass die Protestierer die Rada stürmen könnten. Möglich wäre schon, dass den Menschen allmählich die Geduld ausgeht und der Regierung, die aus dem Maidan und dem Sturz der Janukowitsch-Regierung hervorging, selbst ein Maidan droht. Das Vertrauen der Ukrainer in die politische Klasse ist nach Umfragen praktisch nicht vorhanden. Gestern Abend sprach Saakaschwili erneut zu der Menge vor dem Parlament.

Die Rechtsnationalen wie der Rechte Sektor, die auch Poroschenko stürzen wollen, schließen sich allerdings den Protesten nicht an. Die Proteste sind in ihren Augen "populistisch", man dürfe auch nicht auf den "georgischen Messias" bauen. Es sei schwieriger die Macht zu übernehmen, als über die Grenze zu gelangen. Saakaschwili sei nur ein Bauer auf dem Schachfeld der Oligarchen. Er könne auch keine "nationale" Perspektive bieten, weil er versucht, verschiedene Strömungen zu vereinen, darunter Linksliberale oder gar Vertreter der LGBT-Bewegung. Und das geht gar nicht, noch dazu, wenn es ein Ausländer dirigiert.