Keine hohlen Sprüche - Jacinda hat es geschafft

Am Morgen nach der Wahl, Jacinda und Kalvin, ihr Vize. Screenshot: Telepolis

In Neuseeland koaliert die Labour Party jetzt mit der einwanderungskritischen und von einem Maori angeführten New Zealand First

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Am 23. September, praktisch zeitgleich mit Deutschland, (weil die Uhren einen halben Tag vorgehen!), wurde in Neuseeland gewählt.

Am Ende des Tages hatte Jacinda Ardern, 37 Jahre alt, rund 37 Prozent der Wählerstimmen für sich eingefahren; ihr Gegenspieler, der absolut perfekt gekleidete Konservative, Sportler, Wirtschaftsfachmann, sechsfacher Vater und so weiter, Bill English, 55 Jahre alt, hatte 46 Prozent. Stolz ließ er sich abfeiern, Kommentatoren im National Radio — das nicht nach der National Party benannt ist, sondern, so heißt einfach nur der Staatssender in Neuseeland — verwiesen darauf, wie erfolgreich er es geschafft hatte, in der kurzen Zeit, seit der Stafettenübergabe durch seinen Vorgänger, John Key, nicht nur die Stellung zu halten, sondern das Wahlergebnis um etliche Prozentpunkte zu steigern. Bill, dem soviel Honig um den nichtvorhandenen Bart geschmiert wurde, freute sich bereits, wieder in die angewärmten Pantoffeln zurück kehren zu können.

Auch in Neuseeland sind ja die TV-Werbeschaltungen der Parteien nicht billig. Wer das Geld für Bill English hinlegte, musste man sich indessen nicht wirklich fragen. Aber wenn man die ausgedehnten Filmepen der National Party betrachtete, fragte man sich doch schon, wie lange das wohl noch so weitergehen sollte? Hier ein typisches Beispiel. Knapp 8 Minuten muss man sich dafür Zeit nehmen.

Bill-English-Wahlwerbespot mit Angela Merkel. Screenshot: TP

Gegen die nahezu großbürgerliche Romanfigur des Bill English wirkt Jacinda fast schon proletarisch. Da sitzt sie, nicht mit ihrem Lebenspartner, sondern mit ihrem Vize, Kalvin Davis, zu Hause bei sich auf dem Sofa, zwischendurch rennt im Hintergrund jemand von einem Zimmer in ein anderes. Die Kandidaten sind erschöpft, aber glücklich. Als Jacinda am 1. August, keine zwei Monate vor dem Wahltermin, die Parteiführung übernahm, stand Labour bei 24 Prozent, laut Wählerbefragung. Jetzt hatte das Ergebnis bei 37 Prozent angehalten. Und Jacinda tröstete ihre Wähler: noch sind 15 Prozent der Stimmen nicht ausgezählt, die Briefwahlergebnisse liegen nicht vor, es kann sich noch einiges ändern. Und Tschüss.

Als Zuschauer denkt man — man weiß ja, dass 46 Prozent uneinholbar sind, und vor allem, es werden diese 15 Prozent noch unaufgedeckte Wählerstimmen nicht alle auf Labour entfallen. Die meisten Briefwähler leben in Australien, und die meisten von denen sind Maori und wählen mit Sicherheit Winston Peters, einen gut aussehenden, jovialen Maori-Parlamentarier, der sich hier als Zünglein an der Waage betätigen wird. Der politische Beobachter denkt, Peters wird sicher 10 Prozent der Stimmen einheimsen. Und wenn ihm die National Party ein günstiges Angebot macht, wird er sich einfach an die Große Partei dranhängen und mit einer günstigen Alterspension als Trittbrettfahrer mitschleppen lassen. Er muss nicht einmal irgendein Amt bekleiden.

Als die verbleibenden Stimmen ausgezählt sind, stellt sich heraus, dass Labour und die Grünen gegen National und Winston Peters New-Zealand-First-Partei keine Chance haben. Aber was wäre, wenn Jacinda den alten Zottelbär am Nacken packen und ihn ein bisschen wachrütteln würde? Sie ist nur halb so alt wie er, aber Jacinda ist aufgewachsen in Murupara, einem echten Wildwestdorf in der Bay of Plenty, einer erdbebebgeschüttelten Region der Nordinsel von Neuseeland.

Die übliche Karriere für junge Frauen — zumeist Maori — ist es hier, mit 14 Jahren die erste Schwangerschaft hinzulegen, mit 20 die Vierte, alle Kinder von verschiedenen Vätern. Die Hauptqualifikation der jungen Mütter ist Zigarettenrauchen. Der Staat gibt ihnen Mutterschutz, Geld, oft eine Wohnung, um sie vor der Prostitution zu bewahren. Die Schwangerschaften sind aber seltener das Resultat eines ausschweifenden Lebensstils als multipler Vergewaltigungen, oft durch einen ganzen Tross angetrunkener Bandenmitglieder. Natürlich ohne Gummi. Diese zumeist arbeitslosen Väter schleichen sich oft als schlagbereite Halbkriminelle durch den Bush — den neuseeländischen Urwald — und bauen dort ihr Räucherwaren an, sofern sie nicht ohnehin schon ein P-Labor betreiben — zur Herstellung von Methamphetamin, einer tödlichen Rauschdroge (vgl. Bulldogge mit Stahlhelm und Jesus),

In dieser keineswegs aus einem schlechten Film geborgten Umgebung tritt Jacinda mit 17 Jahren der Labour-Partei bei — quasi dem Äquivalent der deutschen Sozialdemokraten. Kurz darauf wird die Labour-Politikerin Helen Clark neuseeländische Premierministerin und bleibt es volle drei Legislaturperioden lang. Sie wird Jacindas großes Vorbild, und die Partei ihrerseits erkennt in Jacinda das politische Talent. Sie wird nach Kräften gefördert und auf diesen Moment vorbereitet. Jacindas Herkunfts-Rayon —die Bay of Plenty — ist eine der Zentralregionen der Maorisprache, der Maorikultur und der großen Talente. Die Opernsängerin Kiri Te Kanawa stammt beispielsweise aus Kawerau, einer holzverarbeitenden Mill Town in der Nähe, wo Bäume in Klopapier verwandelt werden. Der Gestank ist entsprechend. Obwohl der Fluss, der durch den Ort geht, seit Jahrzehnten komplett versifft ist, gilt das Trinkwasser am Ort als das beste Neuseelands.

Der lange lange Lauf der konservativen Kamarilla

In den seit 2008 bis soeben verlaufenen neun Jahren konnte sich die National Party im Amt halten, während keiner der Kontrahenten aus der Labour Party der konservativen Truppe wirklich das Wasser reichen konnte. John Key wurde Premierminister und galt zugleich als der reichste Mann Neuseelands, der je dieses Amt bekleidet hat. Der neuseeländische Dokumentarfilmer Alister Barry zeigte sich von dieser Leistung wenig beeindruckt. Ein Mann, der, wie er sagte, "sein Vermögen durch Spekulationen gegen den neuseeländischen Dollar" erworben hatte, verdiene es wohl kaum, durch Amt und Würden dafür belobigt zu werden.

Keys letzter Gegenspieler in der Labour-Partei, Andrew Little, galt als Mann, der auf die volle Unterstützung der Gewerkschaften rechnen konnte. Aber was bedeutete das schon, jetzt, da die Gewerkschaften längst in kleine, unwirksame Stücke zerschlagen worden waren? Die Labour-Partei, die 1916 von neuseeländischen Arbeitern gegründet worden war, die sich nicht für den Krieg des britischen Imperiums verheizen lassen wollten, hatte signifikant an Substanz verloren. Sie hatte auch keine Zukunftsperspektiven mehr.

Als Andrew Little, selber ein Krebsüberlebender, zusehends öfter auf seine Unterstützung für das öffentliche Gesundheitssystem zu sprechen kam, wuchs der Verdacht, dass er ohnehin die kommende Legislaturperiode nicht durchstehen würde. Als die öffentliche Unterstützung für Labour vollends zu versacken drohte, zog Little die Reißleine und übergab den Job an seine junge Stellvertreterin. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits überall im Lande die Stimmen laut, die Jacinda wählen wollen würden, wenn sie bloß endlich die Kandidatin wäre. Schließlich drang die Nachricht auch zu den Ohren der "Suits" — der Anzüge tragenden Parteibonzen — durch, und Little warf das Ruder herum.

Eine womöglich so gar nicht geplante Aktion, die aber sofort die Parteienfortune nach oben trieb.

Meisterin des Polit-Pokers

Nach der Wahl mit ihrem schrägen Ausgang erwies Jacinda sich nun als Meisterin des Politpokers. Hatte sie wirklich gehofft mit ihrer offenen Art, ganz plötzlich ins Amt der Staatschefin gespült zu werden? Würde sie nun heulend vor dem Sieger zu Kreuze kriechen und ihm sofort ihre Glückwünsche zur gewonnen Wahl überreichen? Nein — sie hatte da noch ein paar Karten in petto. Das waren erstens die kleinen, aber nicht unwesentlichen Prozentpunkte aus der Briefwahl, und zweitens eben das Geheimgespräch mit Winston Peters.

Die National Party Suits — zumeist Betonköpfe, wenn man einmal Bill English ausnehmen wollte — würden immer mit Winston Peters verfahren, wie mit ihrem Haussklaven. Vielleicht würden sie ihm Geld anbieten, vielleicht ein Amt. Peters hatte sich der unsterblichen Dankbarkeit aller Pensionisten des Landes versichert, als er für die Einführung einer Goldkarte plädiert hatte, die es den Senioren der Nation erlaubte, zu bestimmten Tageszeiten mit Bus und Regionalzug umsonst herumzukutschieren. Aber seitdem? Er war auch schon mal Außenminister gewesen, und der signeuriale alte Herr wirkte wirklich wie der oberste Staatsschauspieler.

Jacinda hatte ihm was anderes anzubieten: ein Mädchen aus seiner Welt, die ihm die Wunschposition lieferte, praktisch das Oberpräsidentenamt, das bisher noch kein Maori in der Politik erworben hatte. Wenn er sich jetzt der Koalition mit der Labour Party und den Grünen anschlösse, könnte er der wichtigste Mann in dieser Regierung werden, oder vielleicht schon bald die Rolle des Generalgouverneurs —- des Vertreters der britischen Queen in Neuseeland — annehmen. DAS würde ihm die National Party NIE gewähren.

Plötzlich fand Winston Peters blumigste Worte, um seinen Wechsel zu Jacindas Dreier-Kombination zu begründen. Bei der National-Truppe war man baff, hatte man doch bis eben noch geglaubt, dass Peters endlos mit Geld geködert werden könnte. Aber Irrtum. Alle sieben Parlamentsmitglieder, die in den eigens den Maori vorbehaltenen überregionalen Wahlkreisen angetreten waren, hatten sich zur Labour-Partei dazugeschlagen. Ohne Winston Peters wäre damit der größte Teil der Maori-Stimmen in den Orkus gekippt worden. Peters hätte als der Ober-Opportunist der neuseeländischen Politik gegolten.

Jetzt konnte er, mit einer kleinen Kehrtwende, sein Image komplett aufbessern. Und ganz bestimmt als Generalgouverneur im passenden Moment aus der aktiven Politik aussteigen. Jacinda hat sich, bereits bevor sie ihr Amt als neuseeländische Premierministerin angetreten hat, als würdige Schülerin ihres großen Vorbilds Helen Clark erwiesen. Man darf gespannt sein, wie die Geschichte weitergeht.