Mimimi too - es ist geil, ein Opfer zu sein

Vom Wert des feministischen Hashtags

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#metoo hat weltweit für Aufsehen gesorgt - und für Häme. Jetzt machen sie sich wieder wichtig, die Frauen. Machen sich wieder zu Opfern. Das können sie bekanntlich am besten. Kaum läuft ihnen ein Läuserich über die achso empfindliche Leber, erfinden sie einen spektakulären Hashtag, um der Welt ihr Seelenweh zu klagen: Mimimi - mir hat einer in den Ausschnitt geschaut #aufschrei. Mimimi - jemand hat mir nachgepfiffen #dearcatcallers. Mimimi - #metoo.

Unfehlbar blieben die bissigen Kommentare in den Foren nicht aus: Alles Lügen, alles Übertreibungen, alles Männerbashing und - wie üblich - Hysterie. Die sollen sich mal nicht so aufplustern. Die meisten Männer, also in Wahrheit und eigentlich und im Grunde genommen alle, sind harmlos, friedfertig, feinsinnig und flauschig. Und wenn wir schon von flauschigen Männern reden: In Wahrheit und eigentlich und im Grunde genommen sind sie nämlich die wirklichen Opfer.

Jedenfalls die wirklicheren Opfer als alle diese Hashtaggerinnen, die sich qua Opferstatusmeldung ihren Fingerhut Mitleid abholen, damit sie sich wichtig fühlen können. Dabei kriegen die sowieso viel zu viel Aufmerksamkeit für ihre eingebildeten Seelenverstauchungen. Während die Männer weiterhin still und in heroischer Maskulinität vor sich hinleiden. Da gehörte mal endlich was getan.

Also: für die armen Männer-Opfer, denen so übel mitgespielt wird in unserer genderwahnsinnigen hyperkorrekten ultrasensiblen grünversifften Undsoweiter. Denn während Frauen eigene Frauenwaggons zur Verfügung gestellt werden, in denen sie angenehm reisen können, müssen sich die Männer eingepfercht wie Schlachtvieh gegenseitig auf den Zehen stehen. Und das nur, weil in überfüllten Pendlerzügen manche (!!) Männer angeblich (!!!) ab und zu (!!!!) Frauen an den Hintern fassen. Dabei ist es nicht einmal ausgemacht, dass das stimmt. Wahrscheinlich sind es nur Regenmäntel, Aktentaschen, Regenschirme, die zufällig an Frauenkörpern vorbeiwischen - und schon schreien sie "Vergewaltigung".

So und ähnlich wird argumentiert, debattiert, relativiert, verharmlost. Die Botschaft: Alles halb so wild, alles nur aufgebauscht, alles in Wirklichkeit ganz anders, im Zweifelsfall sogar: Alles genau umgekehrt.

Das ist nicht neu. Wo immer auf Missstände aufmerksam gemacht wird, stellen sich verlässlich die Abwiegler ein, die Besänftiger, die Totstreichler. Ob es ums Insektensterben geht, um den Klimawandel, Donald Trump, Cybermobbing - die kritischen Argumente werden zerredet, lächerlich gemacht und letztlich abgewürgt. Man könne keine endgültigen Schlussfolgerungen ziehen, für drastische Maßnahmen sei es zu früh, man müsse erst alle Seiten hören, jeden zu Wort kommen lassen, einfach mal abwarten.

So verharrt man in Untätigkeit, während man so tut, als sei man an ernsthaften Debatten interessiert. Diese vorgetäuschte Diskussionskultur, die sich in ermüdenden Endlos-Schleifen dreht, zementiert den Status Quo und verunmöglicht einen echten gesellschaftlichen Wandel. Es ist geradezu so, als riefen die vielen Debattierer: "Das will ich erst mal sehen, ob die Meere dann tatsächlich unwiderruflich vergiftet sind - vorher mache ich weiter wie bisher!"

Jetzt also #metoo. Alles halb so wild. Alles kein Beweis. Eigentlich das Gegenteil eines Beweises, und übrigens: Was hätte auch bewiesen werden sollen? Dass viele Frauen empfindliche Schnepfen sind? Wussten wir doch längst!

Ja, sicher, man darf allem seine eigene Lesart überstülpen. Aber man darf sich nicht täuschen: #metoo ist nicht der Hashtag all derer, die es "gern getan" haben und sich jetzt zum Opfer stilisieren wollen. Es ist nicht der Hashtag derer, die Sex benutzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die gibt es, und sie sind keine Opfer. #metoo ist der Hashtag derer, denen "es" zugestoßen ist. Die es weder darauf angelegt haben noch daraus Profit schlagen wollten.

#metoo heißt nicht: Ich Ärmste. Diesem Hashtag sein eigenes Mimimi entgegenstellen zu wollen, zielt am Wesen vorbei. Das ist kein Wettbewerb, wer das größere, echtere, bessere Opfer ist. Denn so absurd es ist, das in Erinnerung rufen zu müssen: Es ist nicht geil, ein Opfer zu sein.

Wenn sich jetzt Frauen trauen, sich und das, was sie erleb(t)en, sichtbar zu machen, dann geht es nicht um den Victim Of The Year Award. Es geht um Solidarität.

Zu lange hat man Frauen, die Missbrauch erlitten haben, in die Ecke gestellt. Ach, so eine bist du also. Das erklärt einiges. Jetzt verstehe ich endlich, warum du so komisch drauf bist. Na, das wird schon nicht von ungefähr gekommen sein. Manche ziehen so etwas ja regelrecht an. Schau dich doch mal an, ist doch klar, warum dir das passiert ist. Hättest du mal. Wärst du mal nicht. Du hättest es in der Hand gehabt. Letzten Endes war es deine eigene Entscheidung. Deine eigene Schuld. Jetzt auf andere mit dem Finger zeigen, das ist zu billig. Weil gib es doch zu: In Wahrheit und eigentlich und im Grunde genommen hast du es doch auch gewollt.

Es geht darum zu zeigen, dass es keine "typischen Opfer" gibt

Zu lange hat man die gerechte Empörung gegen das Victim Blaming benutzt, um wieder endlose Debatten anzustoßen, die - siehe oben - die Problematik so lange verwässern, bis der Eindruck entsteht, man habe es mit einer Banalität zu tun, einer gefühlten Wahrheit, einem allzu diffusen Nichts-Genaues-weiß-man-Nicht.

Die Grundidee von #metoo aber lautet: Machen wir sichtbar, was in unserem Alltag verborgen ist. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist nicht weit weg, betrifft nicht irgendwelche wehrlose Mauerblümchen in fernen Ländern. Sie ist mitten unter uns.

Zugegeben, ich fand die Idee dieses Hashtags zunächst nicht überzeugend, weil ich allgemein Zweifel habe, was die Schlagkraft derartiger Aktionen anbelangt. Die Reaktionen waren doch vorhersehbar. Musste nicht jede Frau, die sich "outete", damit rechnen, dem öffentlichen Spott ausgesetzt zu sein? Sich dazu zu bekennen, dass es einem selbst passiert ist, ist schwierig. Zu lange hat man doch auch selbst damit gehadert und sich gefragt, was man falsch gemacht hat. Womit man das "verdient" hat. Hat mit niemandem darüber geredet, aus Furcht, sich die obigen Phrasen der Häme, der Schuldzuweisung und Demütigung anhören zu müssen.

Dann begannen Freundinnen, den Hashtag zu posten. Die Selbstbewusste, die alleine durch die Welt reist und die vor nichts und niemandem Angst zu haben scheint. Die Erfolgreiche, die nicht fragt, ob sie als Frau Karriere machen darf oder nicht. Die langjährig Verheiratete mit dem strahlenden Lächeln, die ihre Familie über alles liebt. Was, sie auch?

Und plötzlich begriff ich: Es geht darum zu zeigen, dass es keine "typischen Opfer" gibt. Dass es eben nicht stimmt, dass man sich doch nur so und so verhalten müsse, um auf der "sicheren Seite" zu sein.

Quer durch alle Alters- und sozialen Schichten, Berufsgruppen, Lebensläufe rufen Frauen einander zu: Ja. Ich auch. Das heißt: Ich weiß, wovon du redest. Ich habe es selbst erlebt. Du bist nicht selber schuld. Du hast es nicht provoziert. Du musst dich nicht schämen. Du musst nicht die Klappe halten. Du musst dich nicht schmutzig fühlen.

Und vor allem: Du musst nicht verbittern. Du stehst das durch. Du kannst das hinter dir lassen. Du kannst trotzdem erfolgreich sein. Liebe finden. Glücklich werden.

#metoo ist kein Aufruf zu Männerhass. Es ist kein Generalverdacht und er ist kein Anspruch auf einen kollektiven Opferstatus. Es ist im Gegenteil der Versuch, die Tatsache, dass man Opfer geworden ist, von Weinerlichkeit und Pathos zu befreien.

Wir sind viele. Zu viele, um uns als die üblichen bedauerlichen Einzelfälle und aufmerksamkeitsgeilen Hysterikerinnen abzutun. Wir brauchen kein Mitleid und keine Belehrung. Aber wir wollen, dass sich etwas ändert. Und nein, wir wollen nicht ewig herumdiskutieren, ob das wirklich notwendig ist und ja auch Männer Opfer sein können und dass es doch in Wahrheit und eigentlich und im Grunde genommen viel wichtigere Probleme auf der Welt gibt.

Der Kampf gegen Sexismus ist kein weibliches Monopol. Er wird für alle geführt, ohne Ansehen der Person. Das Ziel von #metoo ist nicht die Umkehrung der Verhältnisse. Das Ziel dieses und aller anderen feministischen Hashtags ist es, Voraussetzungen zu schaffen, damit es solche Hashtags in Zukunft nicht mehr braucht. Krempeln wir die Ärmel hoch. Denn bis es soweit ist, gibt es noch viel zu tun. Alles andere ist tatsächlich nur sinnloses Mimimi.