Tod per Knopfdruck: Massaker an Nomaden

Pasta Khan und Nura Jan berichten über das Massaker an ihren Angehörigen. Bild: Emran Feroz

Durch zumeist in den USA gesteuerte Drohnenangriffe sind in Afghanistan, Irak, Pakistan, Somalia und vielen anderen Ländern bereits tausende Zivilisten ums Leben gekommen

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Wenn Pasta Khan von jenem 5. Juni erzählt, zittert seine Stimme. "Die ganze Welt weiß es", sagt er immer wieder, während er nervös umherblickt.

Pasta Khan stammt aus Bati Tana, einem Dorf der Kuchi in der Provinz Khost, das rund eine Stunde entfernt vom Stadtzentrum und nahe der pakistanischen Grenze liegt. Die Kuchi sind die Nomaden Afghanistans. Sie gehören der paschtunischen Volksgruppe an und leben im ganzen Land verteilt. Außerdem genießen sie politische Sonderrechte - vor allem in Fragen um Ländereien - und haben einen guten Draht zur Regierung in Kabul.

Einige Kuchi wie Hashmat Ghani, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten Ashraf Ghani und Repräsentant aller Kuchi in Afghanistan, sind reiche Geschäftsmänner. Doch die meisten Nomaden sind sehr verarmt und leben ein einfaches Dasein als Hirten oder Händler. Pasta Khan und seiner Familie in Bati Tana erging es nicht anders, doch sie waren zufrieden mit ihrem Nomadenleben.

Der 5. Juni 2015 änderte allerdings alles. An jenem Tag erhielten sie die Nachricht, dass einer von ihnen, ein greiser Mann namens Meer, verstorben war. Pasta Khan befand sich zu diesem Zeitpunkt noch einige Autostunden entfernt in der Provinz Logar, und so machten sich seine Verwandten ohne ihn auf den Weg, das Grab des alten Mannes vorzubereiten. In zwei Pick-ups verließen sie Bati Tana. Nachdem sie das Grab ausgehoben hatten und bemerkten, dass sie frühzeitig fertig geworden waren, wollten sie nach Bati Tana zurückzukehren, um dort das Mittagsgebet zu verrichten und zu essen. Dazu sollte es allerdings nicht mehr kommen. Eine Predator-Drohne hatte die Pick-ups bereits im Visier. Mindestens zwei Hellfire-Raketen schlugen ein und töteten alle Insassen.

Nura Jan, ein Einwohner Bati Tanas, hörte das Bombardement, während er betete. Anfangs dachte er, dass die afghanische Armee eine Talibanstellung bombardiert hatte. Dann klingelte sein Handy. "Unsere Leute wurden bombardiert. Komm schnell", schrie einer der Dorfbewohner in den Hörer. Nura Jan eilte zum Tatort, wo er die ausgebrannten Pick-ups sah. Die Leichen aller Opfer waren vollständig verbrannt. Blutige Körperteile waren über die ganze Straße verteilt. Die meisten Toten waren kaum noch identifizierbar.

"Wir sammelten ihre Arme und Beine ein, um sie miteinander zu vergleichen. Auf diese Art und Weise versuchten wir, sie zuzuordnen und die Identität der Toten zu bestimmen", erinnert sich Nura Jan. Pasta Khans Familie und die anderen Einwohner Bati Tanas, die an jenem Tag lediglich eine Beerdigung aufsuchen wollten, mussten nun 14 Menschen beerdigen.

Dieser Test ist ein Auszug aus dem Buch "Tod per Knopfdruck. Das wahre Ausmaß des US-Drohnen-Terrors oder Wie Mord zum Alltag werden konnte" von Emran Feroz. Er ist für sein Buch in Kriegsregionen gereist und hat mit jenen gesprochen, die von den "Todesengeln" tagtäglich terrorisiert werden, aber auch mit Whistleblowern, die Einblicke in die zynische Tötungsindustrie des Drohnenkrieges geben.

13 tote Männer stammten aus Bati Tana, sechs davon allein aus Pasta Khans Familie. Unter den Toten befanden sich sein Vater sowie vier seiner Brüder. Das 14. Opfer war ein Geflüchteter aus der angrenzenden, pakistanischen Region Waziristan, der ebenfalls im Dorf lebte. Fast alle Toten hinterließen Frauen und Kinder, die nun allesamt mittellos dastanden.

Bis zum heutigen Tag haben die Nomaden aus Bati Tana weder eine Entschuldigung seitens der Regierung gehört noch eine Entschädigung erhalten. Nach Selbstmordanschlägen von Extremisten verhielt sich die Regierung jedoch ganz anders. "Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die Opferfamilien eines Selbstmordanschlages in Khost von Präsident Ashraf Ghani finanziell unterstützt wurden. Doch in unserem Fall war das nicht so. Warum sind die Opfer eines Drohnenangriffs der Amerikaner so viel weniger wert und finden nirgends Erwähnung?", beklagt sich der Nomade.

Stattdessen geschah das genaue Gegenteil. Nach dem Massaker behauptete die Regierung, dass Talibankämpfer, die sich auf dem Weg zu einer Beerdigung befanden, von einem US-Drohnenangriff getötet wurden. Es hieß sogar, dass ein hochrangiger Talibankommandant im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet beerdigt wurde. Doch Meer, dessen Begräbnis die Nomaden aus Bati Tana vorbereiten wollten, war ein greiser Mann, der keinerlei Kontakte zu den Aufständischen pflegte, geschweige denn einer ihrer Kommandanten gewesen war.

Auch Regierungstruppen und Milizen der KPF, die nach dem Anschlag erschienen, vertraten bereits die offizielle Version der Geschichte und behaupteten selbst gegenüber den Dorfeinwohnern, dass die Toten bewaffnete Kämpfer gewesen seien. "Ich lege meine Hand für jeden dieser Männer ins Feuer und schwöre, dass keiner von ihnen bewaffnet gewesen ist. Sobald ihr [die Soldaten] mir beweist, dass auch nur ein Mann eine einzige Waffe mit sich trug, bin ich voll und ganz auf eurer Seite und nehme die Schuld auf mich", entgegnete einer der Dorfältesten.

Die Lügengeschichte der Regierung und des Militärs ist unhaltbar, und auch die UN kam zum Schluss, dass alle Opfer des Angriffs am 5. Juni 2015 Zivilisten gewesen waren. Die NATO scheint sich von den Fakten nicht beeindrucken zu lassen und behauptet nach wie vor, dass in Khost 14 Talibankämpfer getötet worden seien.

Weder Journalisten noch Menschenrechtler suchten Pasta Khan auf. "Niemand sprach mit mir über das Massaker", sagt er. Das BIJ sprach im Laufe einer Recherche zu dem Drohnenangriff mit anderen Einwohnern Bati Tanas. Die Journalisten-Organisation richtete Telefoninterviews ein, da eine Reise nach Khost zu riskant gewesen wäre. Letztendlich kamen die Journalisten zum Schluss, dass drei Versionen des Szenarios möglich gewesen seien.

  1. Die Drohne tötete ausschließlich Zivilisten aus dem Dorf.
  2. Die Opfer waren Talibankämpfer, die das Begräbnis eines Kommandanten besucht hatten.
  3. Aufständische, die einen naheliegenden Posten der Grenzpolizei angriffen, wurden mit der Drohne attackiert und getötet.

In seiner Recherche nähert sich das BIJ dem Geschehen vorsichtig und scheut sich, Angaben der NATO und des US-Militärs sowie deren offizielle Version zu hinterfragen. Fakt ist allerdings, dass Pasta Khans Verwandte und die anderen Männer aus Bati Tana an jenem 5. Juni kein Grab für einen Talibankämpfer aushoben, sondern für ihr Familienmitglied Meer.

Auch die Version, der zufolge ein Grenzposten angegriffen wurde, ist nicht haltbar. Pasta Khan und andere Dorfbewohner beteuern, dass die Grenzpolizei sie nicht belästigte, da sie mit den Gewohnheiten der Kuchi und deren Hin- und Herwandern vertraut sei. Umso mehr wundern sich die Nomaden, warum der Drohnenangriff nahe einem ruhigen Grenzposten erfolgte. Dieser hätte immerhin auch die Polizisten treffen können. Für die Hinterbliebenen der Opfer ist dies nur ein weiterer Hinweis darauf, dass die Piloten und Operatoren der Drohnen die Realität am Boden nicht wirklich erkennen können und dass ihr Urteil oft auf falschen Informationen beruhen muss.

Vor Ort wird deutlich, dass die Kuchi aus Bati Tana nicht lügen und tatsächlich ein Massaker an unschuldigen Zivilisten begangen wurde. Die Aussagen der meisten Dorfbewohner, vor allem jene Pasta Khans und Nura Jans, sind glaubwürdig und präzise. Dass westliche Beobachter sich zu sehr auf kleine Widersprüche fokussieren, wird den Opfern nicht gerecht. Die Familienmitglieder der Toten sind weiterhin traumatisiert und haben das Geschehen kaum verarbeitet. Es gibt absolut niemanden, der sich um diese Menschen auf irgendeine Art und Weise gekümmert hat.

Hinzu kommt, dass eine genaue Dokumentierung nach solchen Vorfällen nicht üblich ist. Jene, die die Verantwortung für den Angriff tragen, weisen jede Schuld von sich und schrecken sogar nicht davor zurück, die unschuldigen Opfer, unter ihnen ein Minderjähriger und mehrere alte Männer, als Talibankämpfer zu bezeichnen.

Dass ausgerechnet die Version dieser Akteure, sprich, des US-Militärs und der NATO, so wenig hinterfragt wird, ist eine absolute Schande. Die Vergangenheit hat viel zu oft deutlich gemacht, dass Lügen und das Verdecken von Kriegsverbrechen in Afghanistan zum Alltag gehören. Es ist genau diese Haltung, die die Menschen in vielen abgelegenen Regionen des Landes in die Hände der Taliban drängt. "Rachegefühle sind normal. Vor allem wenn niemand hilft und man nach solch einem Massaker völlig auf sich allein gestellt ist", sagt Nura Jan. "Doch wir wollen einfach nur unsere Ruhe haben. Wir wollen in Frieden leben", fügt er hinzu.

Emran Feroz, freier Journalist und Sohn afghanischer Einwanderer, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichten der Menschen aufzuschreiben, die unter dem Drohnenterror leiden und von der Berichterstattung ignoriert werden. Für sein Buch" hat er in Afghanistan recherchiert, außerdem ist er Initiator des Drone Memorial, einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnen-Opfer.

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