Giftgasangriff auf Khan Scheichun: Der OPCW-Bericht löst die Rätsel nicht

Der Krater in der Straße. Bild übernommen aus der Einschätzung des US-Berichts durch Theodore A. Postol

Verantwortlich gemacht wird Baschar al-Assad, aber relevante Widersprüche bei den Flugeinsätzen der syrischen Armee und Unstimmigkeiten bei Krankenhausmeldungen werden nicht aufgelöst. Es gab keinen Ortsbesuch der Ermittler

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Der Chemiewaffen-Angriff auf den syrischen Ort Khan Scheichun (mitunter auch "Chan Scheichun" geschrieben) am 4. April dieses Jahres sorgte für großen internationalen Wirbel, geprägt von großer Empörung. Ausgelöst wurde sie durch Videos und anderes Bildmaterial von zivilen Opfern, darunter herzzerreißendende Bilder von Kindern, die als Dokumente eines heimtückischen Angriffs wahrgenommen wurden und über soziale Netze und Medien-Berichte verbreitet, eine große Öffentlichkeit entsetzten.

Der Schuldige stand von Anfang an fest

Sehr rasch stand der Schuldige für den Großteil der Berichterstattung in US-amerikanischen, französischen, britischen, deutschen Medien und die der Golfstaaten, die in der arabischen Welt eine große Reichweite haben, fest: die syrische Armee, womit die Verantwortlichkeit beim syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad lag. Politiker im Westen sahen das genauso (siehe: Vorwürfe der USA und der EU).

Es gab Abweichungen vom weit gestreuten Konsens der Vorverurteilung, die eine Veröffentlichung des Weißen Hauses, irreführend als Geheimdienstexpertise etikettiert, und einige Zeit später eine Stellungnahme der französischen Regierung, bekräftigten. An dieser Stelle wurden kritische Einwände und Anmerkungen dazu veröffentlicht (siehe dazu: Giftgas-Angruff in Chan Scheichun: Die Fakten des Weißen Hauses sind keine und: Das französische Gutachten klärt wenig).

Das politische Gewicht, das dem "Schuldspruch" gegen die syrische Regierung und Armee beigemessen wurde, wurde der internationalen Öffentlichkeit von US-Präsident Trump mit einem Tomahawk-Angriff auf den syrischen Militärflughafen al-Schairat vor Augen geführt (siehe: Ein wenig präziser US-Präzisionsschlag gegen syrischen Stützpunkt).

Der Bericht der maßgeblichen Organisation

Nun hat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einen Bericht zu den Vorwürfen von Angriffen mit Chemiewaffen in Umm Hawsh und Khan Shaichun erstellt. Wie an dieser Stelle zu Anfang des Konflikts über die Verantwortlichkeit des Angriffs hingewiesen wurde, kommt der OPCW institutionell die Hauptrolle zu, um einen neutrale Einschätzung wiederzugeben.

Ihr Bericht, der noch nicht offiziell veröffentlicht wurde, obwohl es dazu schon Medienberichte gab, ist in vollständiger Länge auf dem Twitter-Account schwedischen Journalisten Aron Lund am 27. Oktober verlinkt (ganz unten). Er ist hier einzusehen.

Auf der OPCW-Webseite ist er am Sonntagnachmittag noch nicht veröffentlicht. Dort ist als letzter aktuelle Report der Bericht der Fact Finding Mission (FFM) gelistet. Sie stellte fest, dass in Khan Scheichun Sarin eingesetzt wurde.

So könnte man - wenn man es sehr genau nähme -, einwenden, dass der verlinkte Bericht noch nicht offiziell ist. Allerdings haben schon zig Medien-Berichte seine Haupt-Folgerung verbreitet wie in Deutschland am Freitagmorgen die Tagesschau: "Für den Giftgasangriff auf Chan Scheichun im April ist die syrische Regierung verantwortlich."

"Auch ohne Ortsbesuch genügend Erkenntnisse"

Diesmal handelt es sich um Ermittlungen des Joint Investigative Mechanism, abgekürzt JIM, im Bericht häufig nur als "Mechanism" beschrieben. Anders als bei der Fact Finding Mission, die sich nur auf Feststellungen beschränkte, aber keine Schuldzuweisung traf, ist es Aufgabe von JIM die Verantwortlichen zu ermitteln. Grundlage dafür sind die UN-Sicherheitsrats-Resolutionen 2235 (aus dem Jahre 2015) und 2319 (von 2016).

Um es vorwegzunehmen: Auch dieser Bericht enthält keine wasserdichte Beweisführung. Er weist Lücken auf, hat es mit mehreren Widersprüchen zu schaffen - bemerkenswert ist hier vor allem, dass er im Gegensatz zu Angaben der syrischen Regierung und der Logbücher für Flugeinsätze steht - und er beruft sich zu einem wesentlichen Anteil auf das eingangs genannte Bildmaterial und Aussagen der Syrian Civil Defence, die in der größeren Öffentlichkeit als White Helmets bekannt sind.

Mitglieder des Joint Investigative Mechanism (JIM) waren nicht selbst vor Ort, weder in Umm Hawsh noch in Khan Scheichun, wie der Bericht erklärt. Zwar war das dreiköpfige JIM-Führungspanel unter Leitung von Edmond Mulet der Ansicht, dass ein Besuch "von Wert gewesen sei", der allerdings, wie der Bericht feststellt, "mit der Zeit schwindet", aber es gab Sicherheitsbedenken, die mit den Benefits von Erkenntnissen abgewogen wurde. Das Risiko sei zu groß gewesen, wird berichtet. Man habe auch ohne Ortsbesuch genügend Erkenntnisse gewonnen.

"Krater zubetoniert"

Darüber hinaus wird notiert, dass der Krater in der Straße, der durch den Aufprall der "Bombe" mit den chemischen Kampfstoffen verursacht wurde, mittlerweile "zubetoniert" wurde. Das läuft darauf hinaus, dass das Monopol der Beweise völlig auf den Fotoaufnahmen beruht.

Man kann sich vorstellen, dass Wissenschaftler, deren Arbeit gewöhnlich in friedlichen Labors von statten geht, sich unwohl fühlen, wenn sie in einer Zone unterwegs sind, wo der al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front die Kontrolle hat. Der Entschluss ist also nachvollziehbar. Ob dem auch in den letzten Wochen so war? Die syrische Regierung ist anderer Auffassung.

Allerdings: Der Ort Khan Scheichun liegt in Idlib, wo Hayat al-Tahrir al-Sham, die al-Nusra-Allianz, dominiert. Es ist davon auszugehen, dass sich in dem mittlerweile als "De-Eskalationszone" deklarierten Gebiet an dieser Vormacht nichts geändert hat. Nur, wenn die al-Nusra-Front damit nichts zu tun hätte, wie behauptet wird, weshalb sollte sie sich einem Besuch verweigern? Obendrein hat die türkische Regierung einen guten Verhandlungsdraht zur Führung der al-Nusra.

"Zwischen 6 Uhr 30 und 7 Uhr am 4. April 2017"

Zum Zeitpunkt des Chemie-Waffen-Angriffs hatte Hayat al-Tahrir al-Sham die Kontrolle, stellt der JIM-Bericht eindeutig fest. Den Zeitpunkt, an dem das Giftgas ausströmte, geben die Experten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen ziemlich genau an:

Das Sarin strömte von einem Ort, einem Krater im nördlichen Teil Khan Scheichuns, zwischen 6 Uhr 30 und 7 Uhr am 4. April 2017 aus

OPCW-Bericht

Das ist ein Ermittlungsergebnis, das zu Ableitungen und Widersprüchen führt. Die syrische Armee wie auch Vertreter der Regierung Syriens, mit denen OPCW-Vertreter kommunizierten, gaben an, dass an diesem Tag kein syrisches Flugzeug einen Angriff auf Khan Scheichun geflogen sei.

Die syrischen Logbücher

Auch in den Logbüchern des Militärflughafens al-Schairat (den Trump später als mutmaßlichen Startpunkt des Chemiewaffenangriffs mit den Tomahawks attackieren ließ) war kein Angriff verzeichnet. Der JIM-Bericht verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass man nur Kopien der Logbuch-Einträge zu sehen bekam. (Die syrische Regierung und die Armee verweigerte aus militärischen Geheimhaltungsgründen den Einblick in die vollständigen Logbücher).

Dafür gab es zwei Einträge über Luftangriffe auf Kafr Zita und Tal Hawash, etwa 8 km südwestlich bzw. 18 Kilometer westlich von Khan Scheichun, , ausgeführt von zwei SU-22, zum "relevanten Zeitpunkt". Nach Angaben des einen Piloten (der andere gilt seit einem Abschuss bei einem späteren Einsatz als vermisst) wurde dabei "keine chemischen Waffen" verwendet, sondern 500 kg konventionelle Munition. Die nächste Distanz zu Khan Scheichun bei seinem Flug habe etwa 7 bis 9 Kilometer betragen.

Die Aussage sei konsistent mit Details der Einträge im Logbuch, so der Bericht. Zudem habe eine Überprüfung über Satellitenbilder ergeben, dass Beschädigungen an einem Gebäude in Kafr Zita tatsächlich zu sehen seien. Man könne das aber nicht einem sicheren Datum zuordnen.

Die Gegendarstellung der syrischen Armee wird von JIM mit dem Hinweis relativiert, dass es zu Anfang noch andere Äußerungen seitens der syrischen Armee gab, wonach an diesem Tag ein Luftangriff auf Khan Scheichun stattfand.

Dem kann man, ebenfalls relativierend, entgegenhalten, dass es bei einem Fall, der großes Aufsehen erregt, häufiger zu verwirrenden Erstreaktionen kommt. Als Beispiel sie hier auf das Las Vegas-Attentat verwiesen, wo die Polizei in einer erste Mitteilung an die Presse noch davon sprach, dass der Attentäter bei einem Schusswechsel mit der Polizei umkam.