Türkei: Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung?

Durch die türkische Gesellschaft geht ein tiefer Riss. Die Hälfte der Bevölkerung bekommt schmerzlich zu spüren, was es heißt, sich nicht Erdogan unterzuordnen

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"Ich hatte so starke Angst, dass ich die Schmerzen nicht merkte", berichtet Saime T. der Süddeutschen Zeitung: "Sie kamen gegen vier Uhr in der Früh. Fünf oder sechs Männer, darunter zwei Zivilpolizisten. Sie drohten die Tür aufzubrechen. Sofort stürzte sich ein Soldat auf mich. Sie zogen an meinen Haaren, ohrfeigten und schlugen mich. Ich hatte so starke Angst, vergewaltigt zu werden, dass ich die Schmerzen gar nicht merkte ..."

Solche Berichte aus der Türkei sind mittlerweile an der Tagesordnung. In der Türkei gaukeln die gleichgeschalteten Medien den Menschen einen Alltag vor, in dem alles in geregelten Bahnen läuft - wenn man sich an die Vorgaben aus Ankara hält. Durch die türkische Gesellschaft geht ein tiefer Riss. Die Hälfte der Bevölkerung bekommt schmerzlich zu spüren, was es heißt, sich nicht Erdogan unterzuordnen.

Über Menschenrechtsverletzungen wird mittlerweile nicht mehr nur aus dem Südosten der Türkei berichtet, - obwohl sie dort besonders massiv sind - längst ereignen sich die gleichen Dinge im vormals modernen, säkularen Westen des Landes.

Die jüngst von Justizminister Gül veröffentlichten Zahlen sprechen für sich: Seit dem Putsch am 15. Juli 2016 befinden sich105.000 Menschen auf der Anklagebank. 50.000 davon sind deswegen in Untersuchungshaft oder in Haft. 9.000 Menschen werden polizeilich gesucht. 109.000 Menschen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen

Nicht erwähnt sind die hunderttausenden Binnenflüchtlinge, die von Militär, Polizei und Spezialeinheiten vertrieben, enteignet und ihrer Habe beraubt wurden. Nicht erwähnt sind die Angehörigen, die hinter den von Gül genannten Zahlen stehen. Viele von ihnen wurden in Sippenhaft genommen, haben ihren Job und ihr Vermögen verloren. Die Facebook-Seite TurkeyPurge liefert weitere Zahlen über geschlossene Schulen und Universitäten, geschlossene Medien und inhaftierte Journalisten.

Die deutsche Bundesregierung jedoch will "nix sehen, nix hören, nix sagen" und schlimmer noch: Sie macht sich zum Handlanger Erdogans. Dass Altkanzler Schröder die vorläufige Freilassung der zehn Menschenrechtsaktivisten, darunter auch des Deutschen Peter Steudtner erwirkte, ist für die Betroffenen und deren Angehörige und Freunde ein Grund zur Freude. Aber täglich werden neue Journalisten und Journalistinnen, echte und vermeintliche Oppositionelle und Intellektuelle verhaftet. Vielen bleibt nur die Flucht nach Europa und die Hoffnung auf Asyl.

Auch Saime T. floh letztes Jahr nach Deutschland und beantragte Asyl. Die 49-Jährige Kurdin und Alevitin leidet unter vielen Traumatisierungen: " ...unter persönlichen Schicksalsschlägen und Verlusterfahrungen, unter politischer Verfolgung und Unterdrückung seit der Kindheit. Das ist eine chronische posttraumatische Belastungsstörung mit klassischer Symptomatik", berichtet ihre Therapeutin aus dem Berliner "Zentrum Überleben".

Saime berichtet ihrer Therapeutin über ein Erlebnis aus dem Jahr 1992, das sie nun aufgrund ihrer aktuellen Gewalterfahrungen durch türkische Soldaten, erneut umtreibt: 1992 wurden zwei Männer und eine Frau in ihrer Kleinstadt ermordet.

Soldaten hätten alle Straßen, die aus dem Ort hinausführen, versperrt und auf dem Marktplatz drei Pfähle aufgestellt. Die Leichen der Guerillakämpfer der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei, wurden dort festgebunden; die Bewohner seien aufgefordert worden zu applaudieren, als den Toten die Ohren und Geschlechtsteile abgeschnitten wurden.

Süddeutsche Zeitung

Die Leiterin des Therapiezentrums berichtet über eine zunehmende Zahl von verfolgten und gefolterten Menschen aus der Türkei, die sich bei ihr in Behandlung befinden. Die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei steigt stetig. Bis September 2017 wurden 5.447 Asylsuchende registriert. Bereits 2016 lag die Zahl um ein Vielfaches höher als in den Vorjahren.

Berichte über Menschenrechtsverletzungen häufen sich

Human Rights Watch berichtet über Folterungen und Verschwindenlassen von Menschen in der Türkei. In einem 43 Seiten umfassenden Bericht sind elf Fälle von schwerem Missbrauch in der Haft aus den vergangenen sieben Monaten dokumentiert. Die Ergebnisse beruhen auf Interviews mit Anwälten und Verwandten sowie auf einer Überprüfung von Gerichtsprotokollen. Berichtet wird von Prügeln, dass sich Inhaftierte nackt ausziehen müssen, von sexuellen Übergriffen oder der Androhung von sexuellen Übergriffen.

Angesichts der über 150.000 Menschen, die in den letzten Monaten in Gewahrsam genommen wurden, dürfte das Folterrisiko enorm hoch sein. Anwälte berichten, dass zwar ihre Klienten ihnen von Folter berichten und auch physische Beweise vorlegen können, aber Angst davor haben, diese öffentlich zu machen - aus Angst um ihre Familienangehörigen.

Fünf Fälle von Entführungen in Ankara und Izmir wurden zwischen März und Juni 2017 dokumentiert. Alle fünf Personen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen und sind "verschwunden". Die Behörden weigern sich oder lehnen es ab, Informationen über deren Aufenthaltsort zu geben.

In einem Fall tauchte ein im April entführter Lehrer nach 42 Tagen wieder auf. Seinem Anwalt erzählte er von Verhören und Folter während dieser 42 Tage: "Ich habe meinen Mandanten Önder Asan am 13. Mai auf der Polizeiwache gesehen", sagte sein Anwalt gegenüber Human Rights Watch. "Er hatte Probleme zu laufen und hielt sich an der Wand fest. Seine Hände zitterten. Er war schwer beeinträchtigt und sagte, er brauche psychologische Hilfe."

Human Rights Watch berichtet über weitere Fälle von Folter:

  • Der Besitzer eines Ladens berichtete, die Polizei habe ihn und seine beiden Cousins im Juni wiederholt im Polizeigewahrsam geschlagen und getreten. Dann fotografierten die Polizisten die blutüberströmten Opfer und verbreiteten die Bilder über Twitter und andere Medien.
  • Ein entlassener Lehrer und ein Universitätsdozent wurden im Juni vom Gefängnis in Polizeigewahrsam gebracht. Während der polizeilichen Verhöre mit Kapuzen, wurden sie geschlagen und bedroht. Einer der Männer sagte, er habe zweimal Elektroschocks an seinem Bein bekommen.
  • In einem Dorf im Südosten wurden im August 2017 Dutzende Einwohner eines Dorfes auf der Polizeistation mit Stöcken und einem Gummischlauch zusammengeschlagen.
  • Ein inhaftierter Polizist, der aussagte, dass er im April in Polizeigewahrsam gefoltert wurde, wurde vom Staatsanwalt ohne Überprüfung der Aussage entlassen, obwohl ein Röntgenbild zeigte, dass er eine gebrochene Rippe hatte.
  • Ein Buchhalter erzählte vor Gericht, dass er in der Haft schwer geschlagen wurde. Das Gericht ignorierte die Vorwürfe.
  • Zwei Männer wurden in Ankara von Sicherheitskräften entführt, inhaftiert und gefoltert. Sie wurden erst Monate später freigelassen.
  • Murat Okumuş, ein ehemaliger Krankenhausbuchhalter, wurde Mitte Juni in Izmir entführt. Überwachungskamera-Aufnahmen zeigten den Moment seiner Entführung und es gibt Zeugen des Vorfalls. Er wird weiterhin vermisst.

Dies sind nur einige Beispiele aus dem Bericht von Human Rights Watch. In den sozialen Medien, auf Twitter und in der kurdischen Presse kann man täglich neue Berichte über Gräueltaten der türkischen Polizei, des Militärs und der Spezialeinheiten lesen:

  • In 16 Dörfern um Diyarbakir herum wurde Ende Oktober eine totale Ausgangssperre erlassen. Das bedeutet: die Menschen dürfen nicht aus den Häusern, wer es trotzdem tut, etwa um Brot zu kaufen oder Wasser zu holen, läuft Gefahr, verhaftet oder gleich erschossen zu werden. Die Bewohner müssen willkürliche Hausdurchsuchungen, Demütigungen und Zerstörungen über sich ergehen lassen.
  • In einem weiteren Viertel in Diyarbakirs Altstadt werden nun die Menschen vertrieben und ihre Häuser abgerissen. Mehr als 12.000 Bewohner sind davon betroffen, die meisten waren in den 90er Jahren nach Diyarbakir gekommen, als die türkischen Militärs ihre Häuser in den Dörfern niedergebrannt hatten
  • Am 15. Oktober tötete ein Soldat grundlos einen wehrlosen Dorfbewohner aus Tutunlu/Sendimli in der Provinz Hakkari. Der Mann arbeitete gerade in seinem Garten.
  • Isa Tilaver war einer von mehr als 150 Personen, die zwischen Dezember 2015 und März 2016, teils bei lebendigem Leibe, in Cizre einem Keller verbrannten. Militär und Spezialeinheiten zündeten die Keller an, obwohl sie wussten, dass sich dort Menschen befanden. Erst jetzt, mehr als 20 Monate nach dem Tod, wurde sein Leichnam an seine Familie übergeben. Diese wollte ihn in Doğubeyazıt begraben und das übliche Kondolenz-Zelt aufstellen, in dem Verwandte und Freunde ihr Beileid aussprechen können. Das türkische Militär verbot dies der Familie mit der Begründung, Isa Tilaver sei ein Terrorist und es sei verboten, Terroristen-Verwandten sein Beileid auszusprechen.
  • 25 Monate wartete ein Vater auf eine Nachricht von seinem Sohn. Türkische Behörden verheimlichten seinen Tod. Der junge Mann war als Soldat im Grenzgebiet zu Syrien stationiert, wurde vom IS entführt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Am 22. Dezember 2016 veröffentlichte der IS ein Video, in dem zwei türkische gefesselte Soldaten lebendig verbrannt werden - als Rache für türkische Angriffe auf den IS. Der Vater erkannte auf dem Video seinen Sohn wieder, die türkische Regierung bestritt jedoch die Echtheit des Videos.

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) liegen zahlreiche Beschwerden ähnlicher Art aus der Türkei vor. Nils Muižnieks, Kommissar für Menschenrechte des Europarates, unterstützt die Beschwerden vor dem EGMR. In einer offiziellen Stellungnahme vor dem EGMR bezeichnet er die Haftentscheidungen als "willkürlich und unverständlich".

Das türkische Verfassungsgericht habe bisher über keine der auch dort vorliegenden Beschwerden entschieden. Die unabhängige Justiz der Türkei erlebe eine Erosion, so der Menschenrechtskommissar. Rund 2.800 Urteile des EMGR gegen die Türkei liegen der türkischen Justiz vor. Nur in knapp der Hälfte der Urteile folgte die türkische Justiz den Urteilen des EMGR.