Türkisches Berufungsgericht schafft Gülen-Präzedenzfall

Sympathie für Gülen sei kein Verbrechen, zehntausende Inhaftierte könnten nun klagen; derweil sinken die Zustimmungswerte der AKP weiter

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Am Mittwoch erließ die Istanbuler Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 112 ehemalige Mitglieder des Journalisten- und Schriftstellerverbandes GYV. 35 von ihnen wurden bereits festgenommen. Der Verband, der im vergangenen Jahr verboten wurde, stand der Gülen-Bewegung nahe. Bislang ist kein konkreter Vorwurf bekannt, aber es dürfte sich, wie in solchen Fällen üblich, um Terrorunterstützung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung handeln.

Die türkische Regierung macht die Bewegung des im US-Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich und verfolgt seither jeden, der im Verdacht steht, mit der Bewegung Kontakt zu haben.

Insofern war es gestern ein normaler Tag in der Türkei im andauernden Ausnahmezustand. Allein im Oktober wurden mehr als 3000 Menschen festgenommen, mehr als 1100 wurden verhaftet. Darunter auch erneut zahlreiche Journalisten.

Zur Zeit befinden sich außerdem fast 700 Kleinkinder mit ihren Müttern in Haft. Schon mehrfach wurden Frauen und Kinder als Druckmittel inhaftiert, wenn die Behörden angeklagte Ehemänner nicht ausfindig machen konnten. Der vor zwei Wochen festgenommene Kulturmäzen Osman Kavala, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der türkischen Kulturlandschaft, wurde inzwischen ebenfalls in Untersuchungshaft genommen.

Seit dem Putschversuch wurden insgesamt 130.000 Personen zeitweise festgenommen, rund 56.000 wurden inhaftiert. Gegen die meisten laufen Prozesse oder Ermittlungsverfahren. Oft reicht bereits eine angenommene Sympathie für Gülen für eine Festnahme und Anklage aus. So gab es Fälle, in denen Menschen festgenommen wurden, weil sie Bücher von Gülen besaßen, ein Konto bei einer Gülen-nahen Bank hatten oder die Tageszeitung Zaman abonniert hatten. Das Blatt war lange Zeit das meistverkaufte Nachrichtenmedium des Landes, bis es 2016 verboten wurde.

So erging es im August 2016 auch Hakan Özkan aus dem anatolischen Burdur. Er las die Zaman, seine Tochter besuchte eine heute geschlossene Gülen-Schule, und weil Özkan in der öffentlichen Verwaltung arbeitete, hatte er auch Kontakte zu Mitgliedern der Bewegung. Die AKP hatte den Gülenisten in ihrer Anfangszeit landesweit Posten im öffentlichen Dienst zugeschanzt. Diese Dinge wurden ihm zum Verhängnis. Ein Gericht sah es als erwiesen an, dass er Mitglied der Terrorgruppe FETÖ - ein seit 2016 genutzter Propagandabegriff für die Gülen-Bewegung - sei und verurteilte ihn zu einer mehrjährigen Haftstrafe.

Doch Özkan klagte sich durch die Instanzen. Und das Oberste Berufungsgericht gab ihm nun Recht. Ein Sympathisant der Gülen-Bewegung zu sein sei kein Verbrechen, urteilten die Richter und argumentierten auch mit dem langjährigen guten Image der Bewegung in der türkischen Öffentlichkeit. Es gebe keine Beweise, dass Özkan an illegalen Aktivitäten beteiligt gewesen sei. Er wurde am Donnerstag aus der Haft entlassen.

Dieses Urteil, so erste Kommentare, könnte zum Präzedenzfall werden. Denn derzeit sitzen Zehntausende wegen ähnlicher Anklagen in Haft, Zehntausende weitere haben ihren Job verloren oder wurden enteignet. Viele von ihnen dürften sich nun auf das neue Urteil berufen können.

Aber auch wenn hiermit der Eindruck entsteht, dass der Rechtsstaat in der Türkei wenigstens partiell noch intakt ist, bleiben die nächsten Entwicklungen abzuwarten. Bislang wurden mehr als 4400 Richter und Staatsanwälte entlassen oder verhaftet, manche auch unmittelbar, nachdem sie Urteile gesprochen hatten, die der offiziellen staatlichen Linie widersprachen. Es ist also denkbar, dass es auch am Obersten Berufungsgericht bald personelle Änderungen geben wird. Denn würden nun tausende Inhaftierte erfolgreich klagen, wäre das für Erdogan und die AKP eine unvergleichliche Blamage.

An der politischen Front sieht es für Erdogan nicht gut aus

Sein Narrativ, eine Mehrheit der türkischen Bevölkerung stehe hinter ihm und seiner Partei, ist längst nicht mehr haltbar. Einer aktuellen Meinungsumfrage des Gezici-Instituts zufolge käme die AKP derzeit nur noch auf rund 43 Prozent der Stimmen.

Ähnlich schlecht hatte sie bei den Wahlen im Sommer 2015 abgeschnitten, woraufhin sie über Monate die Koalitionsverhandlungen blockierte, den Friedensprozess mit der PKK aufkündigte, einen neuen Krieg im Südosten entfesselte und schließlich in einer chaotischen Situation Neuwahlen ausrief. Mit Erfolg. Die AKP holte 49,5 Prozent der Stimmen.

Bei den Wahlen im Jahr 2019 benötigt Erdogan eine absolute Mehrheit. Davon ist er derzeit weiter entfernt denn je. Sein Quasi-Koalitionspartner, die rechtsnationalistische MHP, liegt bei nur noch 8,8 Prozent, also unter der 10-Prozent-Hürde.

Die ehemalige Innenministerin Meral Aksener hat gemeinsam mit zahlreichen MHP-Aussteigern Ende Oktober die Iyi Parti (Gute Partei) gegründet, ein neues Mitte-Rechts-Bündnis, das in der ersten Umfrage seit der Gründung aus dem Stand auf 19.5 Prozent der Stimmen kommt. Damit erweisen sich die Einschätzungen der letzten Monate als korrekt. Beobachter hatten Aksener das Potential ausgerechnet, gut ein Fünftel der Wähler gewinnen zu können. Sie wird damit zu einer ernsthaften Konkurrentin für Erdogan.

Die CHP ist demnach von 25 Prozent im Jahr 2015 auf jetzt nur noch 18,5 Prozent der Stimmen gesunken und wäre nicht mehr die größte Oppositionspartei. Die linksliberale HDP, die 2015 erstmals ins Parlament einzog, käme nur noch auf 7 Prozent. Die Partei ist kaum noch handlungsfähig. Tausende Mitglieder sowie die Parteispitze und mehrere Abgeordnete befinden sich in Haft.

In den letzten Wochen hatten Abgeordnete der CHP mehrfach vorgezogene Wahlen ins Gespräch gebracht. Die AKP hat diese Option aber ausgeschlossen.