Allmählicher Abschied

Höheres Zuschauerpodest mit Mauerblick. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Nachgetragene Gedanken zum deutschen Nine-Eleven

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Es gibt horrende Kalamitäten in der Geschichte aller Völker, die zunächst im Gedächtnis unauslöschlich erscheinen. Aber irgendwann verflüchtigt sich trotzdem die Erinnerung daran.

In Amerika, wo die Tage und Monate im Kalender umgekehrt geschrieben werden, erinnert man sich bis heute an die rätselhaften und immer noch nicht wirklich geklärten Ereignisse jenes 11. Septembers 2001, des Nine-Eleven, die zum amerikanischen Kriegseintritt im Irak und in Afghanistan führten.

Einzig der Historiker Noam Chomsky nannte es das "Zweite Nine-Eleven", in Erinnerung an den von Amerika gesteuerten und längst vergessenen Staatsstreich gegen die chilenische Regierung am 11. September 1973.

Dass es auch in Deutschland ein Nine-Eleven gab, hier allerdings bei umgekehrter Zahlenfolge im Kalender, ist mittlerweile kaum noch jemandem eine Schweigeminute wert. Der "neunte Elfte", heute, markiert einen Tag im November 1989, den Fall der Mauer.

Kinderspiel an der Mauer, West. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Er ist kaum mehr jemandem ein paar fromme Sprüche wert, und welche Plattitüden könnte man sich dazu schon noch einfallen lassen? Da hatte man sich Jahre lang die "Wiedervereinigung" zwischen West und Ost gewünscht und kaum war die "Vereinigung" real da, real passiert — vergessen wir mal das Wörtchen "wieder" bei diesem Zusammenschluss -, war man die Sache auch schon wieder leid und hätte gern die Mauer wieder hochgezogen.

Im Westen verfluchte man die Ossis, so wie heute die Flüchtlinge aus der muslimischen Barbarei. Deutschland West wäre gerne wieder hermetisch selber eingeigelt geblieben.

Ich selber hatte als Berliner angefangen, gebürtig in Zehlendorf, ich sprach Berlinerisch wegen meines Berliner Kinderfrolleins, Frau Brüller, und weil ich ein halbes Jahr lang den Kindergarten irgendwo am Kleinen Wannsee besucht hatte.

Mauer: Freie Liebe, freie Kunst. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Erst mit 37 kam ich nach Berlin zurück, zu Besuch, mit Frau und Kind, aus dem Südpazifik nach Westberlin, einer Insel, umringt von einer Mauer. Ich ignorierte diese Mauer. Meine Freunde und Bekannten sagten, sie sei extra für mich errichtet worden, damit ich nicht aus Versehen bis nach Moskau weiterlatschte.

Meine neuseeländische Frau fotografierte das Phänomen Mauer unablässig. Es war ihr unverständlich. Sie hatte Jahre lang Knastbesuche abgestattet, als eine humanitäre Geste. Dies hier war letztlich nichts anderes als jede andere Knastmauer, meinte sie. Ja, sagte ich. Etwas, das man versucht, zu übersehen, auch wenn, in diesem Fall, die Ausgeschlossenen die Eingeschlossenen waren, und die Eingeschlossenen zugleich die Ausgeschlossenen.

Ob es je einen deutschen Film während oder nach der Mauer gegeben hat, in dem das Thema "Mauer" angesprochen wurde? Stillschweigend miterwähnt wurde "die Zone" nur in Andrei Tarkowskis Film "Stalker", nicht zuletzt dadurch, dass der Film in der DDR synchronisiert wurde, in der DDR einen Filmpreis erhielt und in der DDR nicht gezeigt werden durfte.

Ähnlich erging es Michail Roms Film "Der gewöhnliche Faschismus", in der DDR synchronisiert, preisgekrönt und verboten, in der BRD in den Kinos gezeigt unter Fortlassung der letzten beiden Kapitel.

Blick über die Mauer: Zuschauerpodest, voll. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Den einzigen neueren Film, den ich kenne, der Berlin und die Mauer behandelt, sah ich vor einigen Monaten, am 6. August 2017, was zufällig ein Hiroshima-Gedenktag gewesen wäre, wenn ich dieses Faktum nicht komplett übersehen hätte. Der Film heißt "Atomic Blonde", ein Spionagefilm, würdiger Nachfolger des "Spions, der aus der Kälte kam" von ca. 1963.

In "Atomic Blonde" gibt es die Szene, wo zwei CIA-Kollegen auf einer hohen Aussichtsplattform - sehr viel höher, als diese real jemals existierten - auf das Teilstück einer Maueranlage niederblicken und der eine, gespielt von John Goodman, teilt der Titelblondine, gespielt von Charlize Theron, mit:

That's quite a view.70 miles of barbed wire, 310 guard towers, 65 anti-vehicle trenches, 40,000 Soviet-trained, heavily armed frontier troops. All that, and 5,000 GDR citizens still had the brass balls to escape.

Ausschnitt aus "Atomic Blonde"

Das ist ganz offensichtlich im Jahr 2017 die Message an Herrn Trump, der gleich ganz Mexiko von den USA abschneiden möchte. Es war schon damals eine blöde Idee, 1961, als die Mauer hochgezogen wurde, und so war es immer noch 1985, als ich an Bord einer S-Bahn oder U-Bahn von Westberlin unter einem luftdicht abgeschlossenen Teilstück von Ostberlin wieder nach Westberlin fuhr.

Pseudo Kunst, pseudogerahmt. Foto: Archiv Tom Appleton, Berlin 1985

Plötzlich war die Atemluft nicht mehr abrufbar. Ostberlin, so signalisierte die Lunge, war wirklich "dicht gemacht" worden. Blöd bleibt die Idee auch 2017, ob man nun eine Mauer zwischen Mexiko und den USA oder sonst einem Land und dem anderen errichtet.