Indien und der Lärmterror

Stoßstange an Stoßstange schiebt sich der Verkehr hupend durch die Straßen Kalkuttas. Foto: Gilbert Kolonko

Indiens Bevölkerung leidet nicht nur unter Luft- und Umweltverschmutzung, sondern auch unter einem der größten Krankmacher unserer Zeit: Lärm bis zur Taubheit

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Wo in Indien Menschen zusammenkommen, gab es schon immer Lärm. Selbst an einem zehn Kilometer langen Sandstrand schaffen es 500 bengalische Urlauber auf 50 Meter dicht an dicht gedrängt, ein Megaspektakel zu veranstalten. Doch bestand der Lärm früher aus einem Gemisch aus lauten Stimmen, Fahrradgeklingel und ein paar Hupen, so hat er sich mit dem Wirtschaftswachstum zu einem schrillen Krankmacher entwickelt. Untersuchungen in Pune ergaben, dass 80% der Verkehrspolizisten einen schweren Gehörschaden haben (60-80 Dezibel Hörverlust). In Delhi tummeln sich täglich 10 Millionen motorisierte Vier- und Zweiräder im Verkehrschaos auf der Straße - und die hupen wie die Verrückten, damit die Tauben sie hören, denn auch die werden täglich mehr.

In der 14-Millionen-Metropole Kolkata kann vor dem SSKM-Krankenhaus folgendes beobachtet werden: Während die Ampel Rot zeigt, herrscht beinahe Stille auf der Straße vor dem Krankenhaus. Doch sobald die Ampel umschaltet und die erste Hupe ertönt, folgt ein Inferno der nun rollenden Blechlawine. Selbst in diesem verkehrsberuhigten Bereich wurde ein Lärmpegel von bis zu 109 Dezibel gemessen; das ist in etwa so, als stehe man einen Meter neben einem Presslufthammer.

Im Rest der Stadt dröhnt es ähnlich - auch auf der Howrah-Brücke, über die sich täglich bis zu 120.000 Fahrzeuge drängeln, aber auch bis zu 500.000 Fußgänger. Während die indische Mittelschicht sich mit Lärmfenstern schützt - wie ein amerikanischer Architekt, der hier arbeitet, erneut bestätigt, boomen diese "Dinger" in Indien richtig -, ist die Hälfte der Bevölkerung Kolkatas dem Lärmterror den ganzen Tag ausgeliefert, da sie sich nicht einmal eine Mietwohnung in einem der verfallenen Häuser der Stadt leisten können. Wer am Morgen gegen fünf Uhr die Gegend um den Bahnhof Sealdha durchstreift, sieht, wo ein Teil dieser Menschen lebt. Auf den Bürgersteigen beginnen Pappkartons und Plastikfolien auf und ab zu wiegen, und eine Stunde später haben sich die Notschlafplätze in Verkaufsstände und Teebuden verwandelt.

Howrah-Brücke. Foto: Gilbert Kolonko

Von denen, die dort wohnen und arbeiten, wird sich kaum einer den Besuch bei einem Ohrenarzt leisten können - aber bei 14 Prozent der Bewohner Kalkuttas, die es tun können, sagt der Arzt, dass sie einen schweren Gehörschaden haben. Kein Wunder; schon ein durchschnittlicher Lärmpegel von 85 Dezibel (Presslufthammer in sieben Meter Entfernung), kann auf Dauer zu Taubheit führen - und dieser Lärmpegel ist in Indien normal. So bauen Audi und Volkswagen extra robuste und laute Hupen für den indischen Markt - der Sicherheit wegen, denn ein Autofahrer in Bombay hupt an einem Tag so oft wie ein Deutscher in einem Jahr. Wer es noch lauter will, kann im Internet Hupen bis zu 140 Dezibel erwerben, was weit über die ertragbare Schmerzgrenze des Menschen geht (130 Dezibel). In New Delhi musste wegen der ganzen "Hörgeschädigten" sogar ein Projekt mit Elektro-Taxis aufgegeben werden. Die waren so leise, dass andauernd Fußgänger beim Überqueren der Straße in die Dinger rannten.

Der Lärmterror hat auch schon die Berggegenden erreicht. Wer in Darjeeling, der "Perle des Himalayas", am Busbahnhof aussteigt, inmitten von Lärm und Gestank, denkt beim Anblick der ganzen Jeeps und Neuwagen, er hätte den falschen Bus genommen und sei wieder in Kalkutta gelandet - jedenfalls dann, wenn in Darjeeling einmal nicht gestreikt wird. In den steilen Straßen hupen sich entgegenkommende aufstrebende Bürger in ihren Neuerwerbungen an, scheinbar in der Hoffnung, dass die in der Kolonialzeit angelegte Straße breiter wird.

Nicht einmal im Krankenhaus hat man seine Ruhe. Foto: Gilbert Kolonko

Doch die Infrastruktur in Indien ist mit dem Wirtschaftsboom und seinen technischen Errungenschaften schon jetzt heillos überfordert, obwohl es gerade mal 167 Fahrzeuge (Stand 2015) auf 1 000 Einwohner in Indien gibt; in Deutschland sind es 572. Das wissen auch indische Regierungsangestellte. Unter vier Augen geben sie zu, dass der "Fortschritt" sie völlig überrollt:

Was sollen wir machen? Wenn wir in Kalkutta die Straßen modernisieren, bricht der Verkehr völlig zusammen. Dazu müssten wir die vielen armen Menschen vertreiben. Gesetze für Lärmschutz haben wir schon, aber wie sollen wir die umsetzen? Außerdem ist es doch ein Fakt, dass jeder in Indien Wohlstand und steigende Wirtschaftszahlen will. Dass auf Dauer dazu eine moderne Infrastruktur gehört, ist auch der Regierung klar.

Auch der Aktivist Sushovan weiß, dass Indien in kurzer Zeit eine Entwicklung durchmachen muss, für die der Westen 50 Jahre Zeit gehabt hat, doch wirft er den Regierenden vor, dass es ihnen am Willen fehlt, die bestehenden Gesetze durchzusetzen:

Wenn es darum geht, Bauern von ihrem Land zu vertreiben, um ein neues Kohlekraftwerk zu bauen, ist die Polizei da. Auch um das Hab und Gut unserer Eliten zu bewachen. Aber wenn es darum geht, die Bevölkerung vor Lärmterror zu schützen, hat der Staat angeblich nicht genug Kräfte, die Gesetze durchzusetzen.

So gehören Mumbai, Kolkata und Delhi mittlerweile zu den vier lautesten Städten der Erde. Dass täglich etwa 60.000 neue Fahrzeuge in das Verkehrschaos auf Indiens Straßen dazukommen, hilft zwar dem "Wirtschaftswachstum", aber den Preis zahlen diejenigen, die am wenigsten von ihm profitieren.

Hupend in die Einbahnstraße. Foto: Gilbert Kolonko