Libyen: Brutale Folgen der EU-Abschottungsstrategie

Das Innenleben eines Lagers in Libyen. Screenshot Video YouTube/Africa News

Es kommen weitaus weniger Migranten über das Mittelmeer. Tausende werden nun in Lagern unter manchmal unmenschlichen Bedingungen festgehalten

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Es kommen deutlich weniger Migranten übers Mittelmeer nach Europa. Einschließlich Oktober berichtet Frontex in diesem Jahr von 112.000 Ankünften. Im Jahr zuvor waren es demnach in den ersten zehn Monaten 173.000. Als häufigste Herkunftsländer der Migranten werden Nigeria, Guinea, die Elfenbeinküste und Bangladesch genannt.

Als gegenläufige Trends werden von der EU-Grenzschutzagentur beobachtet, dass im Oktober auffällig mehr Migranten aus Tunesien kamen und dass die "westliche Mittelmeer-Route" häufiger benutzt wurde: Bis Ende Oktober erreichten 15.500 Migranten die spanische Küste.

Das sei ein Anstieg um 100 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Im vergangenen Oktober wurden 3.300 Neuankömmlinge in spanischen Häfen gezählt - doppelt so viel wie im September. Hauptherkunftsländer der Migranten sind hier Marokko, Algerien und die Elfenbeinküste.

Nach Italien gelangten im Oktober über die zentrale Mittelmeerroute rund 6.700 Migranten, was in etwa der Zahl im September entspreche, so Frontex. Im Mai und im Juni waren es noch weit über 20.000. Ab Juli nahm die Zahl der Mittelmeerüberfahrten von Libyen nach Italien spektakulär ab. Innenminister Marco Minniti wurde als Retter dargestellt. Zuvor hatte Italien geklagt, dass es am Limit sei.

Die Minniti-Mastermind-Strategie

Minniti gilt als "Mastermind" einer Strategie, die mit mehreren Ansatzpunkten operierte. Die libysche Küstenwache wurde verstärkt, die Aufklärung auch dank der Unterstützung italienischer Boote verbessert, der Einsatz der Küstenwache wurde robuster, deren Hoheitszone, in die NGO-Schiffe nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis fahren durften, ausgeweitet.

Die NGOs mussten einen neuen verschärften Verhaltenskodex unterzeichnen, was viele aus Sicherheitsgründen durch die neue Lage verweigerten und sich in der Konsequenz zurückzogen. Daraus ergab sich die Situation, dass Migranten in hochseeuntauglichen Booten häufiger in der erweiterten "Rettungs-Hoheitszone" von der libyschen Küstenwache aufgegriffen wurden und - anders als von NGO-Schiffen - zurück an die libysche Küste gebracht wurden.

Der letzte und nicht der unwichtigste Ansatzpunkt bestand in der Abwehr der Migranten schon an Land. Den italienischen Unterhändlern gelang es mit über Verhandlungen über Bürgermeister und anderen Vertreter und mutmaßlich auch über direkte Verhandlungen mit Milizenführern, Versprechen von wirtschaftlicher Unterstützung, mutmaßlich auch mittels erklecklicher Geldsummen in Millionenhöhe, spürbar ins Geschäftsmodell der Schleuser einzugreifen.

Milizenverbände und einzelne Milizen sorgten im Hauptablegehafen Sabratha dafür, dass keine oder kaum mehr Boote mit Migranten mehr ins Meer gelassen wurden. Es handelte sich dabei um Gruppierungen, wie die al-Dabbashi-Miliz, der Brigade 48 oder dem "Operationsraum Kampf gegen den IS", die verwickelte Beziehungen untereinander hatten, wie sich dann im Krieg untereinander herausstellte.

Warlords mit im Boot

Für Italien entscheidend war, dass die Milizen, die zuvor das Geschäft der Schleuser unterstützten und davon profitierten, nun gegen das Geschäft operierten. Kritiker waren skeptisch (siehe: Warlords sollen Europas Grenzen schützen?), das stellte in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch kein großes Problem mehr dar. Vor den Wahlen in Deutschland, am 24. September, war das Migrantenproblem in Italien kein hitziges Thema mehr. Das Problem des Migrantenzuzugs aus Libyen war aus den Schlagzeilen verschwunden.

Jetzt kommt es in anderer Ausformung wieder auf den Tisch. Das "Problem" ist jetzt nicht mehr, wie viele an italienischen Küsten ankommen oder die Toten im Mittelmeer, sondern die "Gestrandeten" in Libyen. Konkret: Das Problem ist jetzt, was in den libyschen Auffanglagern mit den Menschen passiert, die nach Europa aufbrechen wollten. Damit werden genau die Härten und Grausamkeiten angesprochen, aufgrund derer die NGOs die Migranten nicht nach Libyen zurückgebracht haben.