Jamaika am Ende - Neuwahlen als Patentlösung?

Wie bekommt Deutschland eine handlungsfähige Regierung?

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Die Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition sind gescheitert. Woran liegt das? Wie immer wird es eine ganze Reihe von Ursachen geben. Es gibt inhaltliche Gründe: In den politischen Kernfragen - Flüchtlingspolitik, Klimapolitik, Steuerpolitik - sind die Auffassungen vielleicht zu unterschiedlich. Manchmal sind Kompromisse inhaltlich nicht oder nur sehr schwer möglich.

Ein anderes Problem: Die Verhandlungsführer von CSU und Grünen verfügen nicht (mehr) über genügend Rückhalt und Autorität, Kompromisse bei der Parteibasis durchzusetzen. Und nicht zu unterschätzen ist die Psychologie. Persönliche Animositäten sind ebenfalls ein großes Hindernis für Kompromisse.

Das ist die Vergangenheit. Jetzt geht es um die Zukunft. Wie bekommt Deutschland eine handlungsfähige Regierung? Die Verfassung sieht dafür ausdrücklich ein ausgeklügeltes Verfahren vor. Dabei weist sie dem Bundespräsidenten die Schlüsselrolle zu.

Staatskrise wie in Weimar?

Wenn politische Prozesse nicht reibungslos funktionieren, taucht in Deutschland schnell ein Schreckgespenst auf - die Erinnerung an Weimar. Das ist kein Wunder. Es gibt eine ganze Reihe von Ursachen dafür, dass die Weimarer Republik gescheitert ist und die Nationalsozialisten nicht aufhalten konnte.

Die erste deutsche Demokratie war nicht stabil und krisenfest. Ein Grund dafür - natürlich nicht der einzige: Die Verfassung war nicht auf Krisensituationen vorbereitet. Sie hatte keine effektiven Mittel, um politische Stabilität im Staat zu gewährleisten. Eine Folge waren Regierungen ohne stabile Mehrheiten, die schnell gestürzt wurden, und viele Neuwahlen in kurzer Zeit.

Die gute Nachricht ist: Das Grundgesetz hat aus den Fehlern der Weimarer Verfassung ausdrücklich gelernt. Seine Spezialität sind klar definierte Verfahren, die zu stabilen Verhältnissen führen (sollten). Mit anderen Worten: Bloß weil Jamaika scheitert, haben wir noch keine Staatskrise. Wir haben das Grundgesetz, eine wirksame Verfassung, die für diesen Fall eine Lösung bereithält.

Der Bundespräsident als Schlüsselfigur

Im politischen Alltag spielt der Bundespräsident eher eine Nebenrolle. Er ist zwar das Staatsoberhaupt. Aber im operativen Geschäft der Politik hat er nur wenige Kompetenzen und kaum politische Macht. Das ändert sich, wenn es Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung gibt. Art. 63 und Art. 68 GG weisen dem Bundespräsidenten dann eine Schlüsselrolle zu. Dann wird er zum "Königsmacher" - oder er löst den Bundestag auf und schreibt Neuwahlen aus.

Der Bundespräsident könnte ohne Rücksicht auf die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen dem Bundestag eine Person zur Wahl als Bundeskanzler vorschlagen. Wer mit der Kanzlermehrheit gewählt wird, ist dann Bundeskanzler.

Gibt es keine Mehrheiten, ist der Bundestag an der Reihe. Er kann - und muss - in zwei Wahlgängen versuchen, einen Kanzler oder eine Kanzlerin zu wählen. Mit dieser Regelung setzt die Verfassung das Parlament bewusst unter Druck. Es wird gezwungen, sich noch einmal mit aller Kraft um die Wahl eines Kanzlers und einer Regierung zu bemühen. Wenn das Parlament dann eine Mehrheit zustande bringt, ist das Problem gelöst, möglicherweise aber nur vorläufig.

Minderheitsregierung und wechselnde Mehrheiten - oder Neuwahlen?

Die Wahl als Kanzler auf diesem Weg garantiert keine stabilen Mehrheiten für die weiteren politischen Vorhaben in der Legislaturperiode. Vielleicht würde Angela Merkel von der Mehrheit des Bundestages tatsächlich gewählt werden. Jamaika könnte sich wahrscheinlich auf sie als Person einigen. Für ihre konkreten Gesetzgebungsvorhaben wäre ihr aber keine Mehrheit sicher. Sie müsste letztlich mit einer Minderheitsregierung arbeiten, die sich wechselnde Mehrheiten sucht. Das ist anstrengend und auf die Dauer instabil. Deshalb gibt das Grundgesetz dem Bundespräsidenten dann die Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.

Es gibt noch einen zweiten Weg zu Neuwahlen. Die Bundeskanzlerin könnte dem Parlament die Vertrauensfrage stellen. So, wie die politischen Mehrheiten gerade sind, würde der Bundestag ihr das Vertrauen verweigern. In diesem Fall könnte der Bundespräsident ebenfalls den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen. Diesen Weg sind bereits zwei Bundeskanzler gegangen: Helmut Kohl 1983 und Gerhard Schröder im Jahr 2005.

Neuwahlen als Patentlösung?

Für die Verfassung sind Neuwahlen also eine Option. Ist das Problem damit nicht gelöst? Ja und Nein. Neuwahlen sind ein selbstverständliches Mittel in der Demokratie, um Mehrheiten zu definieren und Politik zu gestalten. Als demokratischer Reflex liegt es also nahe, Neuwahlen auszurufen, um das Problem zu lösen. Dennoch muss man dieses Mittel vorsichtig anwenden. Eine Neuwahl bringt nicht automatisch ein Ergebnis, mit dem sich leichter eine Regierungsmehrheit finden lässt. Vielleicht wird die Regierungsbildung nach einer Neuwahl sogar noch schwieriger.

Gegen leichtfertige Neuwahlen spricht aber noch ein grundsätzliches Demokratieargument: Durch eine Wahl bringt das Volk seinen Willen zum Ausdruck. Es beauftragt die Politik, auf der Grundlage dieser Wahlentscheidung Mehrheiten zu finden. Politiker haben in der Demokratie keinen Anspruch auf einfache Wahlergebnisse. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen die Politik vor schwierige Herausforderungen stellen. Wahlergebnisse spiegeln die Welt wieder, mit der sich die Politik auseinandersetzen muss.

Zu schnell Neuwahlen anzusetzen, ist deshalb respektlos gegenüber den Wählern - und zutiefst undemokratisch. Mangelnder Respekt fördert Politikverdrossenheit. Auch deshalb sind leichtfertige Neuwahlen riskant.

Neuwahlen sind also verfassungsrechtlich und politisch möglich. Sie sind aber keine einfache Patentlösung. Sie sind erst das letzte Mittel. Sondierungsgespräche, die zunächst gescheitert sind, reichen als Begründung für Neuwahlen nicht aus. Nach einer Denkpause muss die Politik weiter versuchen, aus dem Wahlergebnis eine regierungsfähige Koalition zu schmieden.

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.