Start-ups im Journalismus

Weshalb Neugründungen scheitern

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VICE in den USA, Mediapart in Frankreich, De Correspondent in Holland - Neugründungen können im Journalismus vieles anders oder besser machen. Sie können mit bestehenden Traditionen der Branche brechen, neue Produkte und Finanzierungsformen erproben, wie der Blick ins Ausland belegt. Warum aber gelingt das in Deutschland bislang kaum? Eine jüngst veröffentlichte Studie dokumentiert zentrale Herausforderungen und Fallstricke, denen Gründer im deutschen Journalismus begegnen und die neue Impulse verhindern können.

Illusorische Vorstellungen von Tätigkeiten und Arbeitsaufwand

Ein Unternehmen im Journalismus zu gründen, bedeutet weitaus mehr und vielseitigere Arbeit als eine Tätigkeit als freiberuflicher Journalist. Wer annimmt, eine Mediengründung eröffne neue Freiräume für Recherchieren und Schreiben, verkennt deutlich den mit ihr verbundenen Aufwand. Verwaltung, Marketing, Vertrieb, Technologie, Finanzierung - Tätigkeiten, die vormals der Verlag übernahm, fallen nun den Gründern zu.

Viele der Aufgaben sind auch dann notwendig, wenn ein schnelles Wachstum, hohe Gewinne oder eine Unternehmensveräußerung nicht die wichtigsten Ziele der Gründung bilden. Der höchste Bürokratie- und Verwaltungsaufwand entsteht ausgerechnet dort, wo Journalismus keine vorwiegend wirtschaftliche Rolle spielt - in nicht gewinnorientierten Gesellschaftsformen. Der Gründer eines gemeinnützigen Mediums berichtet exemplarisch, wie sich der Start "aufgrund von Bürokratie" um mehr als sechs Monate verzögert habe. Fast die Hälfte der Arbeitszeit beanspruchten auch heute noch - mehrere Jahre nach der Gründung - administrative Tätigkeiten wie Buchhaltung, Abrechnungen oder Steuern. "Es ist zu zeitfressend", folgert er.

Rollenkonflikte

Nicht allein die Frage, welche Tätigkeiten wie viel Arbeitszeit binden sollten, zwingt Gründer zu Kompromissen. Sobald der Chefredakteur eines Start-ups - wie in einem untersuchten Fall - parallel auch Anzeigenplätze verkauft, geraten die Verantwortlichen in eine schwierige Doppelrolle, in der journalistische und wirtschaftliche Tätigkeiten zuweilen parallel übernommen werden.

Die Problematik verschärft sich dort, wo es keine räumliche Trennung - z. B. durch spezifische Abteilungen, die in eigenen Büros untergebracht sind - gibt, etwa weil man, wie in einigen untersuchten Fällen, vornehmlich virtuell und über digitale Medien zusammenarbeitet. Gründer im deutschen Journalismus starten zwar mit guten Intentionen und reflektieren mögliche Rollenkonflikte. Je höher der finanzielle Druck, desto schwerer fällt es ihnen aber, den eigenen Ansprüchen treu zu bleiben: etwa dann, wenn nur noch die Wahl besteht zwischen "einem großen Corporate-Publishing-Projekt oder der eigenen Privatinsolvenz", wie es ein untersuchter Unternehmer zuspitzt.

Geschäftsmodelle abseits des Journalismus

Weil sich manche Neugründungen offenbar an den "glorreichen Zeiten" des Journalismus orientieren, kopieren sie das bestehende Geschäftsmodell der Presseverlage in digitale Umfelder - und stehen anschließend vor denselben Herausforderungen wie die etablierten Medienhäuser.

Dort, wo mit neuen Erlösquellen experimentiert wird, erproben Gründer Community-Modelle, Lizenzierung und Auftragsarbeiten, e-Commerce, Beratungsangebote und Schulungen. Substanzielle Geschäftsmodellinnovationen, die man - mit Blick auf andere Onlineunternehmen - vielleicht erwartet hätte, sind das nicht. Manche dieser Einnahmen hängen außerdem kaum mehr mit dem Journalismus zusammen.

Warum aber soll in einem Unternehmen überhaupt journalistische Arbeit stattfinden, wenn doch Gewinne vor allem abseits dieser erzielt werden? Wer so denkt, verabschiedet sich Schritt für Schritt von der personalintensiven und kostspieligen Journalismusproduktion. Die Jahrhundertaufgabe hingegen bestünde darin, einen Mechanismus zu entwerfen, der den Journalismus eng mit (neuen) Einnahmequellen verkoppelt, deren Funktionsfähigkeit und Ergiebigkeit direkt vom journalistischen Handwerk abhängt - ähnlich wie das alte Geschäftsmodell der Tageszeitung fundamental auf Journalismus angewiesen ist, auch weil dieser erst die notwendige Leseraufmerksamkeit für den Verkauf von Anzeigenraum schafft.

Unzureichende Nutzerorientierung

Journalistische Neugründungen entstehen vorwiegend aus einer "Medienmacher-Perspektive", aus der heraus früh konkrete Themenfelder, Publikationsformen und Darstellungsweisen erdacht werden. Die Interessen, Probleme und Bedürfnisse von potenziellen Nutzern spielen dagegen in der Produktentwicklung eine eher untergeordnete Rolle. Demgegenüber verweisen gegenwärtige Managementansätze wie "Design Thinking" oder "Lean Startup" auf die Notwendigkeit einer nutzerorientierten Herangehensweise.

Wird systematisch von Nutzern und ihren Bedürfnissen, Problemen und Interessen ausgegangen, lassen sich Produkte sowie Erlösmodelle passgenauer auf einzelne Teilmärkte und Nischen ausrichten. Damit verbunden ist zugleich das Erfordernis, journalistische Produkte jederzeit zu hinterfragen und ggf. einem veränderten Marktumfeld anzupassen.

Ein solches "agiles" Vorgehen hat in digitalen, enorm volatilen Märkten nochmals stark an Relevanz gewonnen: Medienmanagement wird zu einer "Praxis des Experimentierens" - hiervor sind auch etablierte Medienhäuer nicht gefeit. Ein befragter Unternehmer betont: "Du kannst heutzutage nicht mehr am Leser vorbeiproduzieren, also einfach irgendwas vorsetzen. (...) Das wird in den seltensten Fällen sofort funktionieren oder wenn, dann nur kurz. Deshalb (…) immer versuchen, in Kontakt [mit den Nutzern] zu bleiben."

Unterfinanzierung

Auch wenn es an tragfähigen Geschäftsmodellen fehlt, ist eine Neugründung im ersten Schritt doch recht problemlos möglich - vor allem, da sie anfangs sehr einfach und kostengünstig erscheint. "Du brauchst ja nicht viel. Du brauchst ja eigentlich nur einen Computer, einen Internetzugang und ein Wordpress-System", bilanziert ein untersuchter Gründer.

Die gegenüber der Printwelt stark gesunkenen finanziellen Hürden, ein eigenes Medienangebot zu starten, können allerdings zu falschen Anreizen führen. Gründer im Journalismus unterschätzen dann die späteren Kosten im laufenden Betrieb: die schwierige Gewinnung von zahlenden Kunden, die Kommunikation über zunehmend mehr neue Kanäle wie Facebook, Instagram, Snapchat etc. und, allem voran, die Herstellung qualitätsvoller Inhalte.

Deshalb starten Neugründungen im deutschen Journalismus überwiegend mit sehr geringen Budgets. In der Folge entstehen mancherorts atypische Arbeitsverhältnisse: Wesentliche Tätigkeiten, die vormals in der Redaktion erbracht wurden, übernehmen nun Mitarbeiter, die sich ehrenamtlich engagieren und nur anlassbezogen eingebunden werden. Diese fundamentale Angewiesenheit auf unentgeltliche Mitarbeit kann dazu beitragen, dass Neugründungen, die sich der Prekarisierung ihres Berufsstandes eigentlich entgegenstemmen, die bekannten Kostenspartendenzen aus etablierten Verlagen fortschreiben und dadurch ebenjene Prekarisierung des Journalismus - als nichtbeabsichtigte Folge - sogar noch vorantreiben.

Ein befragter Unternehmer kritisiert die Gründungslandschaft: "Mediengründer - und das stellen wir immer wieder bei jungen Gründern in unserem Alter fest -, die gründen, aber vernachlässigen das Geschäftsmodell. (...) Wir merken da, dass dieses alte Modell, das zu Lasten der Autoren geht, einfach weiterbetrieben wird. (...) Das habe ich noch in keiner anderen Branche so gesehen."

Homogene Gründerteams

Die Gründerteams im deutschen Journalismus sind derzeit noch zu homogen besetzt. Das mag daran liegen, dass in Deutschland vornehmlich Redaktionsaussteiger oder junge Journalistenschüler gründen. Dagegen empfiehlt die Forschung, Teams um Persönlichkeiten mit verschiedenen Hintergründen und komplementärer Expertise zu bilden. Diese Teams können die Herausforderungen einer Gründung geschickter und flexibler angehen, weil sie sich in ihren Fähigkeiten ergänzen.

Betriebswirte könnten in Mediengründungen helfen, ein stärkeres Bewusstsein für die auftretenden kaufmännischen Aufgaben zu wecken. Programmierer und Entwickler könnten helfen, mit den neusten technologischen Lösungen, die heute in rasanter Geschwindigkeit überholt sind, Schritt zu halten. Exoten und Quereinsteiger bergen noch dazu das Potenzial, branchenfremde Denk- und Handlungsweisen in den Journalismus zu tragen, die neue Lösungen befördern.

Mangel an einschlägigen Kontakten und Beziehungen

Selbst wenn in einer Gründung Köpfe mit komplementären Fähigkeiten zusammenkommen, können diese nicht alle Herausforderungen im Alleingang lösen. Gründer benötigen ab Tag eins Unterstützung von Mitarbeitern, die sie durch die Startphase aber auch durch spätere Entwicklungsstadien tragen.

Aufgrund der problematischen Unterfinanzierung können diese jedoch kaum in Festanstellung beschäftigt werden. So sind die Gründer im journalistischen Tagesgeschäft - wie oben gezeigt - auf freie Autoren und Journalisten, die ihnen (teils unentgeltlich) zuarbeiten, angewiesen. Unterstützung wird aber auch in Design, Technologie, Marketing, Vertrieb, Recht und Steuern benötigt, die nicht selten ebenfalls von extern hinzugezogen werden.

Journalistische Neugründungen unterscheiden sich von klassischen Verlagen durch eine neuartige, gewissermaßen postindustrielle Organisationsform, in welcher zahlreiche Tätigkeiten desintegriert, d.h. aus dem Unternehmen herausgelöst und nach außen an ein Netzwerk von Partnern vergeben werden. Grundlage der Desintegration bildet das Sozialkapital der Gründer, ihre Beziehungen und Verknüpfungen. Fehlt dieses Sozialkapital, dann lässt sich eine journalistische Gründung kaum verstetigen und auf die nächste Entwicklungsstufe heben - so gut der ursprüngliche Ansatz auch sein mag.

Fazit

Die in diesem Beitrag dokumentierten Fallstricke sollen helfen, für Ursachen des Scheiterns zu sensibilisieren und geläufige Fehler in journalistischen Gründungen zu vermeiden. Nicht alle Herausforderungen jedoch können Gründer im Alleingang lösen.

Obgleich die betrachteten Unternehmen mit guten Absichten, verantwortungsbewussten Intentionen und bemerkenswerter Beharrlichkeit starten, gilt es auch ihre Rahmenbedingungen zu verbessern. Mehr und clevere Anschubfinanzierung für journalistische Gründungen, eine Sensibilisierung für Unternehmertum in der Ausbildung, eine Reduktion von Bürokratie- und Verwaltungsaufwand, ein stärkerer Wissensaustausch zwischen etablierten und neuen Unternehmen. So könnten Neugründungen vielleicht doch zu Trendgebern für Veränderungen im deutschen Journalismus werden.

Dr. Christopher Buschow lehrt und forscht zu Unternehmertum in den Medien. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung (IJK) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Zuletzt erschien von ihm seine Dissertation "Die Neuordnung des Journalismus: Eine Studie zur Gründung neuer Medienorganisationen", die von der Körber-Stiftung mit dem Deutschen Studienpreis 2017 ausgezeichnet wurde. Buschow ist Mitinitiator des "Media Entrepreneurship"-Programms, in dem bislang mehr als 125 Medienstudierende in der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle unterstützt wurden.