Beim Sexismus und der Zensur soll das Ich entscheiden

"Alles Geschmackssache" kommentiert das Kulturbüro Studiwerk die leeren Wände. Bild: Kulturbüro Studiwerk

Eine Kunstausstellung in der Mensa der Universität Göttingen wurde kürzlich nach Sexismus-Vorwürfen abgehängt. Anlass für einige Überlegungen zur neuen Kunstfeindschaft, Hypersensibilität und Prüderie

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Kulturvertreter fürchten nach ähnlichen Vorfällen um die Kunstfreiheit. Übertrieben? Vielleicht. Doch gewinnt die Vorstellung, jeder könne selbst entscheiden, was weg muss, offenbar an Boden. Nicht mehr Argumente sollen darüber entscheiden, was als sexistisch zu gelten hat, sondern die Gefühle der Betroffenen.

Hochsensibilität liegt gerade schwer im Trend. Die Google-Suchanfragen nach diesem Begriff sind seit 2012 deutlich emporgeschnellt. Auch das Interesse für Feminismus hat in diesem Zeitraum leicht zugenommen. In einem stetigen Abwärtstrend begriffen ist dagegen Antisemitismus. Einen außergewöhnlichen Verlauf nimmt die Sexismus-Kurve. Das Interesse an diesem Begriff ist durchgängig sehr niedrig, schnellt aber alle paar Jahre, immer wenn eine neue Anti-Sexismus-Kampagne die Medien beherrscht, für kurze Zeit zu steilen Gipfeln empor.

Angesichts der grassierenden #MeToo-Hysterie ("Sexismus") verwundert es daher nicht, wenn schon die Darstellung weiblicher Nippel und knapp bekleideter Hinterteile auf ein paar Bildern in der Göttinger Uni-Mensa geeignet ist, einen kollektiven Aufschrei auszulösen. Die von Marion Vina gezeichneten Bilder waren Teil der am 20. Oktober eröffneten Ausstellung "Geschmackssache" des Künstlerkollektivs "KomiTee".

Einige Studentinnen hatten sich bei der Gleichstellungsbeauftragten der Universität, Doris Hayn, darüber beschwert. Diese forderte daraufhin, die "diskriminierenden" und "sexistischen" Bilder abhängen zu lassen. Der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) und die Wohnrauminitiative Göttingen schlossen sich ihrer Forderung an. Das für die Ausstellung verantwortliche Studentenwerk brachte daraufhin eine Hinweistafel neben den Bildern an, auf der es hieß, dass es immer wieder vorkomme, dass Einzelne sich durch Satire gekränkt fühlten, doch "in einer offenen, freien und demokratischen Gesellschaft muss allen zugemutet werden, das auszuhalten".

Dass das Ausstellungsplakat, das eine Karikatur Albert Einsteins in Rosa mit Schweineohren und -nase ("Schweinstein") der Künstlerin Ulrike Martens zeigt, möglicherweise antisemitische Klischees bedienen könnte, war indes niemandem aufgefallen. Nachdem die Jüdische Gemeinde der Stadt das Studentenwerk darauf aufmerksam gemacht hatte, wurden schließlich am 3. November, in Abstimmung mit den beteiligten Künstlern, alle 45 Bilder der Ausstellung abgehängt. Zur Begründung sagte der Geschäftsführer des Studentenwerks, Jörg Magull, der FAZ, "es habe Hinweise gegeben, dass Gegner der Schau Aktionen planten". Magull und Martens bedauerten rückblickend ihre mangelnde Sensibilität mit der als antisemitisch empfundenen Karikatur.

Bezogen auf die Sexismus-Vorwürfe, die letztlich den Ausschlag dafür gaben, die Ausstellung vorzeitig zu beenden, sagte Magull dem Göttinger Tageblatt: "Es ist schade, wenn das Studentenwerk in einem universitären Umfeld, das sich der Aufklärung verpflichtet fühlt, satirische Kunstausstellungen, die auch provozieren können, nicht zeigen kann. Ich hoffe, dass dies nicht der Beginn einer Entwicklung ist, die Kunst über guten und schlechten Geschmack definiert."

Streit um die Opferrolle?

Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der Göttinger Lokalposse für die Kunstfreiheit sah sich der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der deutschen Kulturverbände, zu einer Stellungnahme genötigt. Dessen Geschäftsführer Olaf Zimmermann sagte: "Die Studierenden und die Professoren sollten die Freiheiten in unserem Land, gerade auch im eigenen Interesse, mit Nachdruck verteidigen und nicht leichtfertig aufgeben. Debattieren ja. Zensieren nein."

Zimmermann hatte dabei auch die ähnlich gelagerten Zensurbestrebungen an der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (Wie Studentinnen Frauen sehen) im Blick. Mit "Professoren" könnte er deren Prorektorin Bettina Völter gemeint haben, die die Online-Abstimmung über die Tilgung eines angeblich sexistischen Gedichts von der Fassade ihrer Hochschule als "gewaltfreies, demokratisch legitimiertes und auch ideologie-, diskriminierungs- und klischeesensibles Verfahren" bezeichnete.

Doch was könnte der Grund dafür sein, dass Studenten neuerdings auf die Barrikaden gehen, um angeblich sexistische Bilder aus ihrem Blickfeld zu verbannen? Es sieht ganz so aus, als schwappe die Safe-Spaces-Welle aus dem angloamerikanischen Raum allmählich nach Deutschland über. Zudem scheint neben Hypersensibilität auch Prüderie wieder im Kommen zu sein. So können Ausstellungsplakate mit Aktbildern von Egon Schiele mancherorts nicht mehr aufgehängt werden, da Ethikkommissionen intervenieren oder Werbeflächenanbieter Kundenbeschwerden fürchten. Das eigentlich Merkwürdige an den Vorgängen in Göttingen ist jedoch, dass die Studentenvertreter nun, da ihre Forderung umgesetzt wurde, noch immer nicht zufrieden sind.

So beklagt die Wohnrauminitiative in einem am 7. November auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichten Pamphlet, dass das Studentenwerk nicht wie gefordert nur die Bilder von Marion Vina abhängte, sondern "aus Trotz" gleich alle. Auch sei von "Zensur" und einem "Angriff auf die Kunstfreiheit" gesprochen worden. "Opfer möchte man sein." "Eine Diskussion hätte man gewollt, so wurde immer wieder behauptet. Eine Diskussion freilich […], in der es darum geht, dass man endlich mal sagen darf, dass die Bilder nicht sexistisch sind."

Die Künstler und das Studentenwerk hätten sich, indem sie der Zensur-Forderung gefolgt seien, ohne sie ausdrücklich gutzuheißen, "als Märtyrer geriert". Und das "in einer Situation, in der das Selbstbild durch Kritik des als Einsatz für die Kunstfreiheit verklärten Sexismus Schaden nimmt, in der eine Diskussion nicht ertragen wird". Auch glänze "man" mit einer "zweifelhaften Sexismus-Definition und einem befremdlichen Demokratieverständnis: In einer Demokratie müssten Minderheiten einfach mal aushalten, solange die Mehrheit zufrieden ist."

Kurz gesagt: die Vertreter der Wohnrauminitiative fürchten um ihr Opfer-Monopol und kommen nicht damit klar, dass die Künstler und das Studentenwerk eine andere Meinung haben und diese auch offen ausgesprochen haben. Nach Aussage des zuständigen Kulturbüros des Studentenwerks hat weder der AStA noch die Wohnrauminitiative die Diskussion mit den Verantwortlichen oder mit der Künstlerin gesucht. Den Anfang habe die Gleichstellungsbeauftragte gemacht, die kategorisch das Abhängen der angeblich sexistischen Bilder gefordert habe. Auf Facebook versuchten Vertreter des Kulturbüros mit den Zensur-Befürwortern ins Gespräch zu kommen, bissen dabei jedoch auf Granit. So schrieb das Kulturbüro etwa:

Es gibt bei fast allen Darstellungen […] wahrscheinlich immer irgendeine Person, die sich aus irgendwelchen Gründen in irgendwelchen Gefühlen verletzt fühlt, weil sie irgendwas in den Bildern sieht oder da hineininterpretiert (Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Sodomie, Blasphemie, Verherrlichung von gleichgeschlechtlicher Liebe etc., alles schon erlebt). Ginge es danach, dürften wir nur noch Landschafts- und Naturbilder aufhängen, also nicht mal Katzenbilder. Oder abstrakte Malerei (obwohl …).

Kulturbüro

Reaktion der Gegenseite: Das Studentenwerk setze einen Sexismus-Vorwurf mit "plumper Homophobie" gleich.