Déjà vu

Wie das Gefühl anormaler Vertrautheit entsteht

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Wir wissen, wann wir ein déjà vu erleben: Immer dann, wenn die Matrix verändert wird. Dies ist gewiss nützliches Wissen. Trotzdem wüsste man auch gerne: Wie entsteht ein déjà vu?

Lange Zeit nahm man an, dass es durch äußere Reize getriggert würde. Wir sehen etwas, das wir tatsächlich schon einmal ähnlich gesehen haben. Eine übereifrige Mustererkennung weitet das Wiedererkennen einer Einzelheit auf die ganze Szene aus, und schon glauben wir, die Szene schon einmal erlebt zu haben.

Solche "datengetriebenen" Theorien sind naheliegend und wurden daher schon vor über hundert Jahren formuliert. Aber sie erklären nicht, warum ich, wenn ich die Supermarktkassiererin in der Stadt treffe, zwar das Gefühl habe "Verflixt, die kenn' ich doch", aber kein déjà vu.

Endgültig widerlegt wurden diese Theorien spätestens durch die Fallgeschichte eines Patienten mit Temporallappenepilepsie, der regelmäßig in der Aura, die seine Anfälle ankündigte, bis zu einer Minute lange déjà vus hatte. Da ihm die Erfahrung unangenehm war, versuchte er, die Zustände zu beenden, indem er seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenkte - bei langen Episoden gleich mehrmals. Aber das Gefühl des déjà vu "folgte", wie er es ausdrückte, seiner Blickrichtung und seinem Gehör.

Die Geschichte zeigt nicht nur, dass das falsche Gefühl von Vertrautheit von den Wahrnehmungsinhalten unabhängig ist. Sie weist auch darauf hin, dass déjà vus ihre Ursache in einer Fehlfunktion des Gehirns haben können. Der erwähnte Patient bekam seine déjà vus erst, nachdem er infolge einer Enzephalitis mit 33 Jahren die Epilepsie ausgebildet hatte. Vorher hatte er keine gekannt.

Das ganze Leben schon einmal gelebt

Tatsächlich treten déjà vus gehäuft bei Temporallappenepileptikern auf. Eine weitere Fallstudie weiß sogar von einem Patienten zu berichten, dessen déjà vu ununterbrochen andauerte. Er hatte das Gefühl, sein ganzes Leben schon einmal gelebt zu haben.

Der Dauerzustand machte es sinnvoll, mittels Bildgebung nach Auffälligkeiten in seinem Gehirn zu suchen. Gefunden wurde ein erhöhter Blutfluss im linken Schläfenlappen. Dieser verschwand zusammen mit dem déjà vu, solange die Gehirnaktivität mit Diazepam gedämpft wurde. Nach Beendigung der Medikation kam beides wieder.

Diese klinischen Fälle deuten darauf hin, dass Nervennetze im Schläfenlappen das Gefühl von Vertrautheit erzeugen. Unterstützt wird diese Vermutung dadurch, dass man ein déjà vu auch experimentell auslösen kann, indem man Bereiche im Schläfenlappen elektrisch reizt. Das ergibt neuroanatomisch Sinn, denn im Schläfenlappen steckt auch der Hippokampus, der unverzichtbar an der Bildung des Langzeitgedächtnisses beteiligt ist. Dass die Einordnung "vertraut - neu" etwas mit dem Gedächtnis zu tun hat, erscheint intuitiv einsichtig.

Für angepasstes Verhalten ist es grundlegend, Reize ständig daraufhin zu sortieren, ob sie neu oder bekannt sind. Sogenannte appraisal theories ("Einschätzungstheorien") sehen zum Beispiel auch Emotionen als das Ergebnis einer Abfolge von Überprüfungen, denen jedes Element der Umwelt laufend unterzogen wird. Und gleich die erste ist: neu - vertraut? Dann erst folgen: angenehm - schmerzhaft? Relevant für meine Ziele? Mögliche Folgen und Bedeutungen? Und weitere.

Nur, was neu und unvertraut ist, kann für eine weitere kognitive Verarbeitung relevant sein. Darum haben alle Tiere eine eingebaute Präferenz für Neues - eine intrinsische Motivation, neue Informationen zu suchen. Kurz: Neugier (Warum wollen Sie diesen Artikel lesen?). Diese Vorliebe erklärt nebenbei, warum Patienten mit Dauer-déjà vu das durchaus nicht angenehm empfinden. Einer schloss sich sogar in ein dunkles Zimmer ein, um ihm zu entgehen.

Ein anderer versuchte bisweilen das, was wir alle gerne erreichen wollen, wenn uns ein déjà vu überfällt: den vertrauten Ablauf geistig zu überholen und in die Zukunft zu schauen. Natürlich klappte das nicht.

Denn déjà vus sind kein Esoterikum, keine Beinahe-Zeitreise, selbstverständlich auch gar keine Erinnerung. Sondern einfach nur ein unpassendes Gefühl von Vertrautheit.

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