Gefährliche Pflege

Krankenzimmer. Foto: Tomasz Sienicki /gemeinfrei

Der Fall des Krankenpflegers Niels Högel: Über einen Eisberg und seine Spitze

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Als der Krankenpfleger Niels Högel 2006 zu fünf Jahren Haft und einem fünfjährigen Berufsverbot verurteilt wurde, weil er am 22. Juni 2005 mit voller Absicht die Spritzenpumpe eines Patienten manipuliert und ohne medizinischen Grund ein potenziell tödliches Herzmedikament verabreicht hatte, war das schockierend, aber nicht völlig einmalig.

Fälle von Krankenpflegern und Krankenschwestern, die ihren Patienten bewusst schaden, oder sie sogar serienweise töten, kommen öfter vor, als man sich das wünschen würde; Högel war da kein singulärer Einzelfall und eher ein kleiner Fisch. Anscheinend. Sowohl Högel selbst als auch eine Nebenklägerin legten Revision ein, und der BGH hob das Urteil tatsächlich auf.

Der Fall weitet sich aus

Daraufhin wurde der Krankenpfleger im Jahr 2008 erneut in derselben Sache verurteilt, diesmal wegen Mordversuchs zu sieben Jahren Haft und lebenslangem Berufsverbot. Die Polizei interessierte sich aber schon seit 2005 für andere Todesfälle, die während der Tätigkeit von Högel an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst aufgetreten waren. Dennoch wurde Högel erst am 28. Februar 2015 wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Fortführung der Ermittlungen danach ließ die Fallzahlen erst so richtig explodieren. Nach mehr als hundert Exhumierungen in drei Ländern (Deutschland, Türkei, Polen) und toxikologischen Analysen ließen die Behörden Anfang November 2017 wissen, dass man mittlerweile von 106 Toten ausgehe, mindestens.

Es ist anzunehmen, dass das nur eine vorläufige Zahl ist; die wirkliche wird man nie genau erfahren, weil viele der möglichen Opfer feuerbestattet wurden. Niels Högel selbst soll Mithäftlingen gesagt haben, dass er bei "50 aufgehört habe zu zählen". Er soll sich im Gefängnis auch als "der größte Serienmörder der Nachkriegsgeschichte" bezeichnet haben.

Bizarre Vorgänge

Nur ein paar der bizarrsten Vorgänge, die den Fallkomplex Högel begleiten:

  • Högel beging seinen letzten Mord am 24.6.2005, also zwei Tage nach der Tat vom 22.6.2005, für die er 2006 zunächst wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde. Die Klinikleitung hatte bei dem knapp davongekommenen Opfer vom 22.6. zwar einen Bluttest veranlasst, aber am 23. und 24.6. versah Högel ohne Einschränkungen seinen Dienst. Als das Ergebnis des besagten Bluttests, das ihn belastete, am 24.6. eintraf, verständigten sich die Verantwortlichen der Klinik darauf, Högel seinen Spätdienst normal abschließen zu lassen, weil er ohnehin "danach Urlaub gehabt hätte". Ein normaler Spätdienst für diesen speziellen Krankenpfleger bedeutete, dass er noch eine weitere Patientin ermorden konnte. Das Video von der Pressekonferenz am 28.8.2017, in der die Polizei solche Dinge zu Protokoll gab, ist durchaus sehenswert.
  • Högel vergiftete und reanimierte manche seiner Opfer mehrfach.
  • Er griff teilweise selbst zum Telefon, um den Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen.
  • Im April 2015, also nach der Verurteilung Högels vom selben Jahr, klagte die Staatsanwaltschaft Osnabrück einen ehemaligen Oldenburger Oberstaatsanwalt im Zusammenhang mit dem Fallkomplex Högel an. Er habe sich der Strafvereitelung und der Rechtsbeugung schuldig gemacht, weil er trotz eindeutiger Hinweise Ermittlungen verschleppt und keine Anklage erhoben habe. Das Landgericht ließ die Anklage nicht zu. Die Osnabrücker Staatsanwaltschaft legte Beschwerde ein, die vom Oberlandesgericht Oldenburg schließlich zurückgewiesen wurde.

Ein Krankenpfleger, der möglicherweise der schlimmste Serienmörder der deutschen Rechtsgeschichte ist (von NS-Verfahren abgesehen); das Verhalten, oder besser Nichtverhalten seiner Vorgesetzten und Kollegen; juristische Querelen, die auf dem begründeten Verdacht beruhen, dass Rechtsbeugung und Strafvereitelung in massivem Ausmaß vorgekommen sind: Das müsste eigentlich eine der größten Stories des Jahres in Deutschland sein. Ist es aber nicht.

YouTube verzeichnet für das oben erwähnte Video bisher nur 3318 Aufrufe (Stand 25.11.17). Merkwürdig. Sollte sich die Öffentlichkeit dieser Sache nicht annehmen? Das legt doch schon allein die Zahl der Opfer nahe. Und Antworten zu der Frage, wie es so weit kommen konnte, gibt es ja eigentlich auch. Man tappt da nicht völlig im Dunkeln.