Bedingungslose Bürgerversicherung

Weniger Bürokratie, mehr Freiheit und absoluter Datenschutz durch ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen

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Das Medizin-Business ist gerade mal wieder etwas in Aufruhr. Ärzte und Versicherungsfirmen befürchten Einnahmeverluste, wenn die SPD ihre schon lange beworbene "Bürgerversicherung" durchsetzen sollte. Auch auf der Kundenseite herrscht Aufregung: Das Projekt, alle Bürger zu Pflichtmitgliedern in den gesetzlichen Krankenkassen zu machen, veranlasst manchen zu regelrechten Jubelrufen, andere zu Alarmismus. Der Deutsche Beamtenbund warnt ernsthaft vor einer Staatskrise.

Beides, die Angst um die eigene Pfründe wie die Hoffnung auf ein Ende der Privilegierung Besserverdienender, verdient wenig Sympathie, denn beide Positionen sind egoistisch. Dabei könnte eine "Bürgerversicherung" tatsächlich gut für alle sein - wenn man sie nicht im bestehenden, 134 Jahre alten System denkt.

Was die SPD mit einer Bürgerversicherung will (und ähnlich auch Grüne und Linke wollen), ist zum einen die Finanzierung der Krankenkassen durch alle - ohne Ausnahme. Bislang können sich u.a. Beamte, Selbständige und Gutverdiener bei einem privaten Anbieter versichern. Weil sich diese Versicherungen ihre Kunden einzeln aussuchen, können sie attraktive Konditionen anbieten. Doch damit beteiligen sich gerade diejenigen mit üppigem Einkommen nicht an der medizinischen Versorgung der ärmeren Bevölkerung, was reichlich unsolidarisch ist. Alle entsprechend ihrem Einkommen zur Kasse zu bitten sollte daher selbstverständlich sein, eine entsprechende Änderung ist überfällig.

Zum anderen will die SPD aber auch die bisherige Möglichkeit, durch freiwillige Versicherungen bessere Leistungen zu bekommen, streichen. Während sonst in der Gesellschaft überall ein Zig-Klassen-System besteht (Essen, Wohnen, Autofahren, Urlaubmachen unterscheiden sich eben je nach Einkommen der Bürger deutlich), soll in der Medizin künftig jeder gleich (schlecht) behandelt werden. Im SPD-Wahlprogramm heißt es dazu:

Mit der Bürgerversicherung schaffen wir eine einheitliche Honorarordnung für Ärztinnen und Ärzte. Bislang werden Privatpatientinnen und -patienten oftmals bevorzugt, da ihre Behandlung höher vergütet wird. Das werden wir beenden. Damit richtet sich die Vergütung medizinischer Leistungen nach dem Bedarf der Patientinnen und Patienten und nicht danach, ob sie privat oder gesetzlich versichert sind.

SPD

Dieses Ansinnen trieft vor Neid und hat weder etwas mit Solidarität noch mit medizinischer Notwendigkeit zu tun. Kein Arzt wird behaupten, bislang bekämen Kassenpatienten nicht das, was "dem Bedarf der Patientinnen und Patienten" entspricht. Aber Bedarf ist etwas anderes als Wunsch. Jeder Mensch braucht im Winter eine dicke Jacke. Die gibt es nun aber für 50 Euro, für 500 Euro und sicher auch für 5.000 Euro. Ein Gesetz, das jeden verpflichten würde, künftig nur noch die 50-Euro-Jacke zu tragen, wäre nicht links, sondern ballaballa.

Es ist keine soziale Ungerechtigkeit, wenn ein Arzt seine Praxis für den Normalbetrieb um 18 Uhr schließt, für den Extrazahler aber um 21 Uhr nochmal öffnet. Ungerecht wäre, wenn für solche Extrawünsche die Allgemeinheit aufkommen müsste statt der einzelne Nutznießer.

Die alten Strukturen sind nicht mehr zeitgemäß

Im Gesundheitswesen gibt es viel Beklagenswertes. Das hat aber mit der Versicherungsform überhaupt nichts zu tun. Nehmen wir das Hauptproblem: fachlich oder sozial inkompetente Ärzte und Schwestern. Die werden auch mit höherer Vergütung nicht besser. Es fehlt schlicht eine Qualitätskontrolle. Lange Wartezeiten beim Facharzt und verwaiste Praxen auf dem Land sind Managementfehler von Politik und medizinischer Selbstverwaltung. Und dass Hausärzte für Kassenpatienten tatsächlich oft keine angemessene Vergütung bekommen, hat ebenfalls nichts mit der Versicherungsform zu tun - es ist das Ergebnis der SPD-Gesundheitsreformen.

Es liegt auf der Hand: Die alten Strukturen sind nicht mehr zeitgemäß, ein komplett neues System müsste her. Aber in der Gesundheitsbranche geht es um sehr viel Geld. 336 Milliarden Euro waren es 2016, das sind 12% des BIP. 7 Millionen Menschen arbeiten in dem Bereich - verständlich, dass bei jedem kleinen Veränderungsversuch mächtige Lobbyverbände auftreten.

So warnt Uwe Laue, Vorsitzender des Verbands der privaten Krankenversicherung (PKV), vor dem Verlust von "68.000 qualifizierten Arbeitsplätzen", wenn die Bürgerversicherung für alle kommt. Und er sieht es noch dramatischer: "Tausende Ärzte, Zahnärzte, Hebammen und viele andere Helfer müssten ihre Praxen schließen."

Ärzte wollen hohe Honorare, Versicherungen wollen hohe Überschüsse - das ist legitim und der ganze traurige Sinn des Kapitalismus. Jede Lobby jammert und klagt. Was die Bevölkerung hingegen will, ist eindeutig: eine Finanzierung des Gesundheitssystems durch alle, die ausreicht, jedem das medizinisch Notwendige (nicht Mögliche und Hübsche) zukommen zu lassen. Dafür gibt es bereits ein Verfahren, weltweit erprobt und in einer Demokratie im Idealfall auch lobbyfrei einsetzbar zum Nutzen aller: die Lohn- und Einkommensteuer.