Die deutsche Angst vor Minderheitsregierungen

Bundeskanzleramt. Bundeskanzleramt,_Berlin_2017_003.jpg:Bild: Mike Peel/CC BY-SA-4.0

Politiker fürchten ihre Ungewissheit und Unkalkulierbarkeit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Neuerdings diskutiert man in Deutschland über die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Doch wenn Politiker darüber sprechen, meinen sie das als abschreckendes Beispiel und Horrorvision. Von allen denkbaren Alternativen vor Neuwahlen wäre eine Minderheitsregierung die ultimativ allerletzte, betonen unisono alle Politiker. Das mag in anderen europäischen Ländern vielleicht mal funktionieren, aber doch nicht in einem wohlgeordneten Land wie Deutschland. Warum eigentlich?

Das deutsche Unbehagen vor Minderheitsregierungen wirft die Frage auf, welche tiefsitzende irrationale Angst dahintersteht und ob es wirklich vernünftige und nachvollziehbare strukturelle Argumente gegen Minderheitsregierungen gibt. Haben sie tatsächlich mehr Nachteile als Vorteile? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Eine Minderheitsregierung muss damit leben, dass sie nie per se eine Mehrheit kontrolliert. Sie muss in jedem Einzelfall, in dem sie für eine Entscheidung eine Mehrheit braucht, darum ringen und mit anderen Fraktionen verhandeln. Das verändert einschneidend die Kultur des Umgangs im Parlament. Die Angehörigen anderer Fraktionen müssen überzeugt werden. Man redet miteinander, nicht gegeneinander.

Eine strenge Fraktionsdisziplin, gar ein rigider Fraktionszwang, vergiftet von vornherein die parlamentarische Atmosphäre für Minderheitsregierungen. Es ist eine Kultur, zu deren strukturellen Wirkmechanismen es gehört, nach Lösungen in der Absicht zu suchen, sie auch wirklich zu finden und nicht dazu, die Vertreter anderer Fraktionen niederzumachen oder gar niederzubrüllen.

In Parlamenten mit Mehrheitsregierungen herrschen dagegen hierarchische Entscheidungswege, die als solche und für sich allein genommen zutiefst undemokratisch sind und die auch zusammen genommen nicht gerade zu den Meisterleistungen demokratischer Entscheidungsfindungskunst zählen: Die Regierung fasst einen Beschluss. Dann informiert sie die Fraktionsführung(en). Die Fraktionsspitze(n) sorgt(sorgen) dafür, dass die Mitglieder der Fraktion ausnahmslos im Sinne der Regierung entscheiden, notfalls mit Drohungen, Sanktionen, nacktem Zwang und Geld- oder Postenentzug. Das ist man gewohnt. So sind Entscheidungen im Bundestag schon immer gefällt worden. Das entspricht der vorherrschenden autoritären Mentalität.

"Eine Minderheitsregierung hat nicht die Stabilität, die man in Europa und in Deutschland und in der Welt im Moment braucht", tönt etwa NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und stößt damit auf große Zustimmung; denn alle sind natürlich für starke Regierungen in schweren Zeiten - als ob es jemals Zeiten gäbe, die nicht schwer sind. Die Lage ist doch immer ernst. Man fragt sich, wie jemand je auf die absurde Idee verfallen konnte, die Entscheidungsfindung in Mehrheitsregierungen mit ihrer rigiden Fraktionsdisziplin und dem Zwang zur Geschlossenheit sei ein demokratischer Vorgang. Sie ist das Gegenteil davon. Sie ist geprägt von autoritärem Denken und hierarchisch strukturierten Entscheidungswegen. Jeder einzelne Schritt in der Kette erfolgt von oben nach unten. Demokratisch wäre umgekehrt: von unten nach oben. In die parlamentarische Struktur eingebettet sind undemokratische Entscheidungsprozesse.

Bei Minderheitsregierungen besteht strukturell ein Zwang zu Lösungen Mit dem Parlamentarismus eng verknüpft war ja stets die naive Vorstellung, dass so etwas wie eine Regierung durch kultivierte Debatte möglich sei, dass also die Vernunft von Entscheidungen wie einst Phoenix aus der Asche aus Diskussionen emporsteigen könne - so wie das aus den geistreichen Debatten im antiken Athen und Rom möglich gewesen sein soll. In einem Parlament mit einer Minderheitsregierung käme man diesem demokratischen Ideal zumindest einen großen Schritt näher: Man würde wieder miteinander reden, um gemeinsam Lösungen zu finden.

Der Zwang zum lösungsorientierten Diskurs wäre in der Art der Mehrheitsverhältnisse und der strukturellen Entscheidungszwänge institutionalisiert - so wie der Zwang zum antagonistischen Fraktionsgegröle in den Verhältnissen der bisherigen Mehrheitsregierungen im Bundestag institutionalisiert ist. In den hoch ritualisierten Debatten moderner Parlamente ist von vornherein jede Hoffnung darauf begraben, dass aus dem primitiv-rechthaberischen und dennoch zahnlosen Parteiengebrüll auch nur Rudimente von Vernunft hervorgehen könnten.

Um überhaupt möglich zu sein, muss eine konstruktive Streitkultur in irgendeiner Weise institutionalisiert sein, also etwa dadurch, dass eine seriöse Debatte wenigstens dazu führen kann, dass einzelne Abgeordnete anders abstimmen und sich womöglich gar die Mehrheitsverhältnisse ändern. In einer Situation mit einer Minderheitsregierung wäre auf jeden Fall die strukturelle Voraussetzung für einen zivilisierten Umgang institutionalisiert. Und genau das befürchten die Gegner von Minderheitsregierungen. Die Feinde einer Minderheitsregierung sind beherrscht von der Angst vor den unordentlichen Entscheidungswegen. Man weiß nicht von vornherein, was dabei herauskommt. Das passt den Politikern grundsätzlich nicht in den Kram. Sie haben lieber klare Weisungen ihrer Fraktionsführungen.

Es ist natürlich klar und sogar nachvollziehbar, dass die Kanzlerin mit den klaren Entscheidungsstrukturen von Mehrheitsregierungen mit Fraktionszwang besser zurechtkommt, in denen ein Wadenbeißertyp wie der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder seine Fraktionsmitglieder mit mehr oder auch weniger Gewalt unter Kontrolle hält. Aber demokratischer und zugleich auch politisch zivilisierter sind die systemimmanenten Zwänge einer Minderheitsregierung.

Unter Minderheitsregierungen besteht ein lösungsorientiertes Klima des demokratischen Miteinanders, das Mehrheitsregierungen mit ihrem klamaukhaften Gegeneinander fremd ist. Der strukturelle Zwang zu Antagonismus und radikaler Abgrenzung besteht in dieser Konstellation nicht. Die Fraktionen stehen unter der Notwendigkeit, aufeinander zuzugehen und nicht unter dem Zwang, sich mit dröhnenden Redensarten voneinander abzuheben.

Zugleich aber besteht ja auch die reale Gefahr, dass das bestehende Gleichgewicht der Kräfte im Parlament zusammenbräche. Zum Mehrheitssystem gehören zwangsläufig hierarchische Strukturen in den politischen Parteien und den Fraktionen. Ohne diese Strukturen und ihre Befehlswege von oben nach unten sind Mehrheitssysteme kaum funktionsfähig; denn jede Änderung der Mehrheitsverhältnisse gefährdet die Regierung. Und weil das so ist, erscheint es den amtierenden Politikern aller politischen Parteien ausgeschlossen, dass man es einmal mit einer Minderheitsregierung versuchen könnten und zwar total.

Sie sind diese Entscheidungs- und Willensbildungsstrukturen nicht gewöhnt. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass Entscheidungen tatsächlich öfter mal von unten nach oben getroffen werden. Sie kennen das nur umgekehrt. Ihre Mentalität rebelliert dagegen.

Sie erkennen auch keinerlei Anreiz zur kultivierten oder auch nur halbwegs zivilisierten Debatte. Im Gegenteil, die "Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser", schreibt Roger Willemsen. Aber in der Theorie des Parlamentarismus verläuft die Chose eigentlich umgekehrt: Die Legislative kontrolliert die Exekutive.