"Verantwortung für die Krise tragen in erster Linie SPD und FDP"

CDU-Bundesgeschäftsstelle Berlin. Bild: Thomas Riehle/CC BY-SA-2.0

CDU-Politiker Ruprecht Polenz über die Risiken einer Minderheitsregierung, mögliche Neuwahlen sowie die Kritik am Kurs der Bundeskanzlerin

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19 Jahre lang saß Ruprecht Polenz für die CDU im Deutschen Bundestag, er war unter anderem Generalsekretär und von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Polenz ist heute Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

Herr Polenz, wie sehr schadet die Hängepartie bei der Regierungsbildung dem Land?

Ruprecht Polenz: Es ist zumindest nicht gut, wenn über Monate hinweg eine nur geschäftsführende Regierung im Amt ist. Deutschland muss berechenbar sein - nach innen, aber vor allem nach außen. Nicht ohne Grund hat der französische Staatspräsident Macron seine Besorgnis ausgedrückt, gerade vor dem Hintergrund der Brexit-Verhandlungen.

Wäre eine Minderheitsregierung riskant oder eher eine Chance für den Parlamentarismus?

Ruprecht Polenz: Der Parlamentarismus ist kein Selbstzweck. Das intensive Zusammenspiel zwischen Regierung und Parlament ist immens wichtig, ich nenne nur die Stichworte Transparenz und Kontrolle. Allerdings sollten die Rollen nicht vertauscht werden. Im Falle einer Minderheitsregierung übernähme das Parlament in gewisser Weise die Aufgaben einer Regierung. Das halte ich für problematisch.

Der CDU-Wirtschaftsrat warnt vor einer großen Koalition - er sagt, ebenjene werde es nur durch unbezahlbare Versprechen in der Sozialpolitik geben. Der Verband befürwortet eine Minderheitsregierung.

Ruprecht Polenz: Ich bin da anderer Meinung. Eine solche Regierung wäre instabil. Sie müsste sich für jedes Gesetzesvorhaben eine Mehrheit suchen.

Ist nicht genau das eine Stärke Angela Merkels?

Ruprecht Polenz: Ja, aber sie ist natürlich viel stärker mit einer verlässlichen Regierungsmehrheit.

In vielen außenpolitischen Fragen herrscht Einigkeit zwischen Union und SPD. Wo genau läge das Problem, wenn die Union allein regierte?

Ruprecht Polenz: Ich denke da zum Beispiel an die Verabschiedung des Haushalts. Für eine Minderheitsregierung wäre dies ein besonderer Kraftakt. Es bestünde die Gefahr, dass die ohnehin Merkel-kritischen Parteien allein aus taktischen Gründen dagegen stimmten. Die Regierung müsste deren Ja mit Kompromissen erkaufen. Ein klarer und verantwortlicher Regierungskurs sieht anders aus. Überdies wäre die mangelnde Vorhersehbarkeit politischen Handelns eine Gefahr.

Inwiefern?

Ruprecht Polenz: Sowohl die Wirtschaft als auch die Bürger wüssten nicht, welcher Kurs verfolgt wird. Im Vordergrund stünde die Frage: Auf welchen Kompromiss einigen sich die Akteure diesmal? Es wäre sicherlich kein Gewinn für die Demokratie, wenn der Wähler Entscheidungen nicht mehr einzelnen Parteien zuordnen könnte. Vieles würde verschwimmen, auch in der öffentlichen Debatte; die Politik wäre kurzatmiger.

Gäbe es dauernd wechselnde Mehrheiten, verlöre der Bürger leicht den Überblick, wer bei welcher Entscheidung dabei gewesen ist. Das machte die zukünftige Entscheidung, "Wen wähle ich?", nicht gerade leichter, um es vorsichtig zu formulieren. Zudem haben wir die besondere Situation einer populistischen Partei im Bundestag. Die AfD würde im Parlament zusätzliche Einflussmöglichkeiten erhalten.

Befürworter einer Minderheitsregierung verweisen auf diverse Nachbarstaaten, in denen sich das Modell bewährt habe.

Ruprecht Polenz: Die Vergleiche lassen außer Acht, dass die meisten dieser Länder nicht in gleicher Weise internationale Verantwortung tragen. Deutschland hat aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Kraft eine besondere Stellung in Europa. Das ist etwas anderes, als wenn in Italien oder Portugal eine Minderheitsregierung sehen muss, wie sie über die Runden kommt.

"Wenn eine Regierung Stimmen verliert, ist sie nicht abgewählt, sondern lediglich geschwächt"

Trägt Bundeskanzlerin Merkel die Hauptverantwortung für das Scheitern der Jamaika-Sondierungen?

Ruprecht Polenz: Nein. Ich höre von den Verhandlungsteilnehmern eigentlich nur Positives über die Arbeit der Kanzlerin. Sie hat unheimlich viele Einzelgespräche geführt, immer wieder nachgehakt, ist wiederholt auf die Parteivorsitzenden zugegangen - ja, sie hat von Anfang an versucht, Brücken zu bauen.

Der Grüne Robert Habeck kritisierte das Vorgehen bei den Verhandlungen. Er sagte, es wäre sinnvoller gewesen, zunächst in Kleingruppen zu sondieren. Ähnlich äußerte sich der FDP-Politiker Volker Wissing: Angela Merkel habe den Weg gewählt, zunächst alle Dissense auf den Tisch zu legen und aufzuschreiben - es sei nicht nach Gemeinsamkeiten gesucht worden.

Ruprecht Polenz: Das genaue Prozedere hätten die Parteien gleich zu Beginn der Sondierungen klären können. Wenn das, was jetzt im Nachhinein als Kritik geäußert wird, von Anfang an als Wunsch für den Ablauf der Verhandlungen auf den Tisch gelegt worden wäre, hätten die Parteien sich sicherlich auf einen gemeinsamen Weg verständigt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frau Merkel derlei Einwände ignoriert hätte. Für mich klingt aus solchen Vorwürfen eher der Frust oder die Enttäuschung über das Scheitern heraus.

Gehören Sie zu jenen, die sagen, die FDP sei aus der Verantwortung geflüchtet?

Ruprecht Polenz: Es ist zumindest offensichtlich, dass die Liberalen ihre Parteiinteressen höher stellen als alles andere. Sie haben schlicht nicht den Mut, sich auf das Experiment einer auf Kompromissen ruhenden Jamaika-Koalition einzulassen.

Jeder Verhandlung wohnt die Möglichkeit des Scheiterns inne. Worin liegt das Problem, wenn Parteichef Linder sagt, die FDP könne den "Geist des Sondierungspapiers" nicht verantworten?

Ruprecht Polenz: Das muss man akzeptieren. Mich irritierte allerdings das Argument, die FDP könnte in einem solchen Bündnis zu wenig von ihren Vorstellungen durchsetzen. Denn wenn man Verhandlungen abbricht - und in die Opposition geht -, kann man gar keine seiner Ziele durchsetzen. Ähnliches gilt für die SPD. Deren Argument, die Große Koalition sei abgewählt worden, ist nicht nur merkwürdig, sondern falsch. Eine Koalition ist nur dann abgewählt, wenn sie keine Mehrheit für eine Regierungsbildung hat.