Leseschwächen: "Die Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem ist noch weiter angestiegen"

Der Schulmeister von Esslingen (Codex Manesse, 14. Jh.)/ Ausschnitt. Bild: Heidelberger historische Bestände / gemeinfrei

Und: "das selbstständige Lesen ist wenig verbreitet" - Erika Brinkmann, stellvertretende Vorsitzende des Grundschulverbands zu den IGLU-Ergebnissen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der internationale Vergleichs des Leseverständnisses von Viertklässlern brachte größere Mängel bei Grundschülern aus Deutschland ans Licht. Telepolis stellte dazu der Grundschulpädagogin Prof'in Dr. Erika Brinkmann, Direktorin des Instituts für Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und stellvertretende Vorsitzende des Grundschulverbands, ein paar Fragen.

Sind die IGLU-Ergebnisse ein Signal dafür, dass am Leseunterricht an den Grundschulen etwas geändert werden muss? Immerhin gab es ja auch eine positive Entwicklung bei der obersten Leistungskategorie und man könnte mit einem Mittelfeldplatz zufrieden sein?

Erika Brinkmann: Nein, mit einem Mittelfeldplatz kann man nicht zufrieden sein, wenn er bedeutet, dass einige Kinder in der oberen Kategorie gelandet sind, 18,9% der Schülerinnen und Schüler aber nicht über ein ausreichendes Kompetenzniveau im Lesen verfügen - die Schere hat sich in den letzten Jahren noch weiter geöffnet und damit ist die Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem noch weiter angestiegen.

Kennt man denn die Gründe, warum sich viele andere Länder verbessert haben? Lässt dies Rückschlüsse auf den Unterricht an deutschen Grundschulen zu, wo die Leistungen über viele Jahre konstant blieben?

Erika Brinkmann: In Deutschland finden durchschnittlich in 87 Unterrichtsstunden pro Jahr gezielte Leseaktivitäten statt (laut Lehrerangaben), im internationalen Mittelwert sind dies 156 Stunden, also fast doppelt so viele. Außerdem ist in unseren Schulen das selbstständige Lesen in z.B. nach individuellen Interessen ausgewählten Büchern, die dann evtl. auch über die Unterrichtszeit hinaus weitergelesen werden (besonders wirksame Form der Leseförderung und der Entwicklung von Lesemotivation!) - anders als z.B. in Schweden, England, Finnland oder Dänemark - erst wenig verbreitet.

Liegt nicht auch viel Verantwortung bei den Eltern?

Erika Brinkmann: Ein Familienalltag, in dem Schrift eine große Rolle spielt und den Kindern schon frühzeitig regelmäßig vorgelesen wird, ist unbestritten ein besonders förderliches Umfeld für die Entwicklung von Lesekompetenz. Das war und ist in vielen Familien aber nicht so, dort spielen Bücher, Briefe, Notizen und andere funktionale Schriftverwendungen gar keine oder kaum eine Rolle und wenn, möglicherweise sogar eine negative, weil es dann um amtliche Schreiben oder Rechnungen geht, mit denen man nichts zu tun haben möchte.

Die Schule kann keine Leseförderung an die Familien verordnen, sie kann aber das Leseinteresse der Kinder wecken und Eltern unterstützende Tipps zur Lektüreauswahl und zum gemeinsamen Lesen geben. Gerade auch bei Kindern mit anderer Muttersprache könnten die Eltern durch das Vorlesen deutscher Bilderbücher und dem anschließenden Austausch über das Gelesene in der jeweiligen Muttersprache sowohl das sprachliche als auch das literarische Lernen unterstützen und zum weiteren Lesen anregen.

In Forumsdiskussionen werden die Ursachen hauptsächlich in der Eingliederung von Förderschülern und Kindern von Migranten vermutet. Der Bericht selbst gibt das so nicht her. Gibt es dazu aus den praktischen Erfahrungen von Grundschullehrern Beobachtungen? Hat sich da in den letzten beiden Jahren viel verändert?

Erika Brinkmann: Tatsächlich ist aber der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund um die Hälfte gestiegen und es gibt auch mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf in den Regelschulen. Umso erfreulicher ist es deshalb, dass die Grundschulen es offenbar geschafft haben, dass die Leistungen im Lesen im Durchschnittswert insgesamt konstant geblieben sind.

Wie könnten Grundschulen die Disparitäten, die sich gerade in Deutschland auch bezüglich der sozialen Herkunft (Bildungsgrad, Bücher zuhause, usf) zeigen, besser ausgleichen? Bis zu welchem Grad wäre das denn überhaupt möglich?

Erika Brinkmann: Die Grundschulen müssen für diese wichtige Aufgabe sowohl personell als auch materiell deutlich besser ausgestattet werden. Sie stehen im internationalen Vergleich mit ähnlich reichen Ländern deutlich schlechter da.

Auch in der Aus- und Fortbildung gibt es noch einigen Bedarf. So ist der Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben in vielen Bundesländern nicht Pflichtfach bzw. werden entsprechende Seminare an vielen Hochschulen nicht (ausreichend) angeboten.