Wenn Weltbilder aufeinanderprallen

Bild: Pixabay/CC0

"Gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung" fördert die Polarisierung der Gesellschaft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft beschreiben möchte, benutzt gern das Wort "polarisiert". Soll heißen: Im öffentlichen Diskurs stehen sich bei vielen Themen gegensätzliche Meinungen und Weltbilder mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Die Dinge werden dadurch verkompliziert, dass Weltbilder ja keine Häuser aus "harten Fakten" darstellen, sondern auch auf Axiomen, Schätzungen, Prognosen, Interpretationen aufbauen. Viel Raum für Gefühle, Ideologie und "einfache Antworten auf schwierige Fragen", quasi das Spezialgebiet der viel gescholtenen Populisten. Allerdings: Auch intelligente und gebildete Menschen, darunter linke, sind in Zeiten, in denen die Medien uns mit unüberschaubar vielen Informationen überhäufen, nicht gegen "gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung" gefeit.

Anfang November hat sich der Welt-Korrespondenten Alan Posener mit einem Meinungsbeitrag zu Wort gemeldet: "Migration hat Deutschland weltoffener und moderner gemacht." Eine migrations-skeptische Gesellschaft wäre "ein chauvinistisches, intolerantes, verbittertes, altes, misstrauisches, innovationsfeindliches und isoliertes Deutschland: das Abbild der Verhältnisse auf AfD-Parteitagen."

Zu diesem Schluss kommt Posener, obwohl er diverse von Migration verursachte "Rückschläge" und "Opfer" durchaus sieht und benennt. Henryk M. Broder bescheinigte seinem optimistischen Kollegen daraufhin "idealistische Akrobatik". Einwanderung könne auch schief laufen.

Amadeu Antonio Stiftung brandmarkt "giftige" Gedankenwelten

Wir nehmen aber mal an, der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) gefiele Poseners Denkansatz gut. Was ihr nicht gefällt, hat die Stiftung kürzlich in der Studie "Toxische Narrative" zusammengetragen. Narrative sind laut AAS "Erzählungen", "mit denen wir die Welt ordnen, erklären und die beschreiben, aus welchem Blickwinkel wir die Gesellschaft betrachten".

Konkret geht es um Narrative von zehn Social-Media-Akteuren des "verschwörungstheoretischen, rechtsextremen und rechtspopulistischen Spektrums" (u. a. AfD, Compact-Magazin, NPD), die in diesem Fall als toxisch, eben: Gift für die Gesellschaft, eingestuft werden.

Beispiele im O-Ton der Studie: "Migration führt zu Destabilisierung": "Nicht-Deutsche" "würden ... Gewalt und Terror verüben und das Wohlfahrtssystem ausnutzen", "Angriff auf deutsche Identität/Kultur", "auch wenn nicht deutlich ist, was genau die 'deutsche Kultur' ... ausmacht", "Der politische Gegner ist schlecht", "Volksverräter": "Politiker, die nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten", "Fremdherrschaft"/EU als "Diktatur", "Lügenpresse", "Nazikeule", "Der Untergang ist da" ("Die Aufzählung von Terrorakten und die Verwendung von Begriffen wie 'Asylflut', 'Flüchtlingswelle' und 'Masseneinwanderung' setzen ankommende Geflüchtete mit (Natur-)Katastrophen gleich.") Angesichts dieser Narrative vermissen die Autoren mehr "demokratische Gegenerzählungen".

"Rechtspopulisten" und "Rechtsextreme" landen in der Studie in derselben Schublade, infizierte "andere Teile der Gesellschaft" gleich mit, denn: "Gerade Verschwörungserzählungen kennen keine politische Zugehörigkeit ...". Deswegen ist auch das Portal KenFM Teil der Stichprobe, obwohl es von der AAS weder als extrem noch als populistisch eingestuft wird.

Selbst wenn die konkret zugrunde liegenden über 1.000 Texte der Inhaltsanalyse nicht bekannt sind, ist nicht auszuschließen, dass ein Teil des Untersuchungsmaterials inhaltlich sehr einseitig, sozusagen starker verbaler Tobak ist, wie etwa "Lumpenmedien" oder "Asyl. Das Chaos. So kommt der Bürgerkrieg zu uns". Trotzdem werfen die als sozialschädlich angesehenen Narrative die Frage auf: Welche Gegen-Narrative sind, in Zeiten, in denen die bösen Zuschreibungen "Nazi" und "Rassist" überall herumgeistern, gesund für Geist und Seele? Die aufgelisteten Argumentationsstränge sind es in den Augen der AAS jedenfalls nicht - und zwar offenkundig egal, wie differenziert oder derb sie daherkommen mögen.