Halbe Wahrheiten, ganze Lügen

Amazon in Pforzheim. Foto: Radosław Drożdżewski / CC BY-SA 4.0

Amazon als das Glyphosat des Internethandels?

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Je stärker sich Kampagnen und Bewegungen auf ein einzelnes Reizthema konzentrieren, desto durchschlagskräftiger sind sie in der Regel. Noch besser ist fast ein einzelnes Reizwort, das gar nicht weiter diskutiert zu werden braucht: Es sagt ja selbst schon alles. Das ist im politischen Alltagsgeschäft verführerisch, aber leider handelt man sich mit der Verkürzung oft auch eine Verblödung ein.

Der Onlinehandel stellt den bedeutendsten Innovationsschub in der kapitalistischen Distributionssphäre seit den ersten großen Kaufhäusern aus dem 19. Jahrhundert dar. Das Internet stand als Plattform bereit, und Amazon ergriff die Gelegenheit mit aller Konsequenz.

Das kann man gut oder schlecht finden, aber man kann es zunächst einmal nicht leugnen. Der Erfolg des Paradigmas Onlinehandel, für den Amazon beispielhaft steht, ist überwältigend: Der Umsatz sprang allein in Deutschland von 2,5 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf mindestens 44 Milliarden im Jahr 2016.

Nicht zu übersehende Schattenseiten

Die Vorteile für den einzelnen Konsumenten braucht man kaum zu erläutern: Auswahl, Lieferzeiten, generelle Bequemlichkeit des Einkaufs, das alles ist von jedem Kunden des Onlinehandels erfahrbar. Aber Entwicklungen von einer ökonomischen Wucht, die mit dem Aufkommen der Eisenbahn oder der Etablierung der Seidenstraße vergleichbar sind, haben Schattenseiten, und die sind beim Onlinehandel insgesamt und bei Amazon speziell nicht zu übersehen.

Steuerflucht, die miserable Behandlung der Mitarbeiter, der rasant gestiegene Innovations- und Konkurrenzdruck für den Einzelhandel, die Herausbildung einer oligopolartigen Struktur, die üblichen Boom- und Bustzyklen mit den üblichen Konsequenzen für Millionen, heutzutage tendenziell für Milliarden Menschen.

Die astronomischen Summen, die den öffentlichen Haushalten aufgrund der Steuertricksereien von Unternehmen wie Amazon entgehen, haben reale soziale Konsequenzen. Es ist die Frage, ob die politische Sphäre diesen unglaublich professionellen Manövern überhaupt noch etwas entgegenzusetzen hat.

Die Arbeitsbedingungen und die Löhne sind derart schlecht, dass es sogar einer Gewerkschaft wie Verdi gelungen ist, Beschäftigte bei Amazon zu signifikanten Arbeitskämpfen zu mobilisieren. Die FAU hat offenbar dabei geholfen. Was im Fall von eBay vor dreizehn Jahren außerhalb des Unternehmens noch kaum sichtbar war, ist mittlerweile völlig klar: E-Commerce ist kein ökonomisches Wunschkonzert, in dem Klassenunterschiede aufgrund digitaler Kameraderie einfach verschwinden, sondern er ist im Gegenteil ein Ausbeutungsbeschleuniger.

Neue Arbeitsnomaden

Welch ein Wunder: Das ist der Sinn von technischen und logistischen Innovationen im Kapitalismus. Wer wissen will, wie hart sich das in der Praxis auswirkt, der lese den exzellenten Artikel "Living in cars, working for Amazon" von Jessica Bruder. Er handelt von den neuen Arbeitsnomaden in den USA, auf die Amazon massiv zurückgreift. Spoiler alert: Die dargestellten Zustände sind nicht witzig.

Es gibt also eine ganze Menge an Amazon und dem Onlinehandel insgesamt zu kritisieren, und bereits die wenigen, hier schon genannten Kritikpunkte könnten irgendwann zu der Frage Anlass geben, warum überhaupt eine soziale Struktur wie Amazon von so wenigen kontrolliert wird und so wenigen wirklich Profit einbringt.

Die große, böse Firma und der kuschlige familiengeführte Betrieb

Aber in diese Richtung geht die Kritik gar nicht. Zumal in Deutschland nicht. Da geistern eher Bilder von infantilen, handgeschriebenen Zetteln durch die Netzgemeinde, die behaupten, dass "Amazon die Welt beherrschen will". Oder Gerrit und Frederik Braun, die Macher der Miniaturwunderlands in Hamburg, zeichnen in einem Marketing-Video ein Portrait, in dem sich nicht einmal der deutsche Kleinbuchhandel selbst wiedererkennen würde

Das Phänomen Amazon wird nicht als die technologische Speerspitze des (Handels-)Kapitalismus betrachtet, sondern ausschließlich unter dem Aspekt, dass die große, böse Firma aus Amerika den rechtschaffenen deutschen Familienbetrieb in der Nachbarschaft ruiniert. (Bei den Brauns geschieht das auch noch unter der zusätzlichen Bedingung, dass sie selbst einen absolut professionellen Online-Shop betreiben.)

Es ist wieder einmal die Verteidigung des Autochthonen, Kleinen, Krautigen und Putzigen gegen die große, böse Welt und die Monster der Moderne, die sie regieren. Ein paar Fragen an dieses geistige Miniaturwunderland gäbe es dann schon noch. Wer garantiert eigentlich, dass die Angestellten in all diesen wunderbaren, kuscheligen familiengeführten betrieben, von denen die Brauns fabulieren, besser behandelt werden als bei Amazon?