Bürgerversicherung: Warum nicht einfach das österreichische Modell übernehmen?

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Horst Seehofer müsste nur einen Blick über die Grenze werfen, um zu sehen, wie die SPD-Forderung "ohne große Ungerechtigkeiten" umgesetzt werden kann

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CSU-Chef Horst Seehofer lehnte die SPD-Forderung nach einer Bürgerversicherung im Spiegel mit der Begründung ab, er sehe nicht, "wie man sie so umsetzen kann, dass sie nicht für große Ungerechtigkeiten sorgt". In Sozialen Medien empfiehlt man ihm deshalb einen Blick über die Grenze: In Österreich funktioniert ein Bürgerversicherungsmodell nämlich seit langem so zufriedenstellend, dass auch die neue türkis-blaue Koalition bislang keine wesentlichen Änderungswünsche dazu vorgebracht hat.

In der Alpenrepublik richten sich alle Krankenversicherungsbeiträge nach dem Einkommen, und nicht nach Vorerkrankungen oder dem Alter. Wer unterhalb von 415,72 Euro monatlich verdient, der zahlt den Studenten- und Mindesttarif von etwa 50 Euro. Darüber fallen bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von 4.860 Euro 7,65 Prozent des Einkommens an. Dieser Beitrag beinhaltet sowohl den 3,87-prozentigen Arbeitnehmer- als auch den 3,78-prozentigen Arbeitgeberanteil. Österreichische Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen also nur etwa die Hälfte dessen, was in Deutschland für die Krankenversicherung anfällt.

Dass die Beiträge so viel niedriger sein können als in der Bundesrepublik, deutet darauf hin, dass das österreichische System (in dem eine Gebiets- oder Berufskrankenkasse zugewiesen wird) effizienter ist als das deutsche mit Hunderten von gesetzlichen und privaten Kassen. Ob sich diese größere Effizienz über ein "System mit mehr als 100 gesetzlichen und privaten Bürgerversicherungen" erreichen lassen wird, das der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gestern ins Spiel brachte, ist fraglich.

Durch die nur halb so hohen Beitragsforderungen kommen in Österreich auch Selbständige, die den Arbeitgeberanteil (ebenso wie in Deutschland) selbst übernehmen müssen, seltener in Zahlungsschwierigkeiten. Rentner zahlen keinen Arbeitgeberanteil, sondern 5,1 Prozent ihrer Bezüge. Lassen sich Ehepartner und Lebensgefährten mitversichern, steigt der Beitrag um 3,4 Prozentpunkte; mitversicherte Kinder kosten dagegen nichts extra.

Leistungen

Die Leistungen der österreichischen Gebiets- oder Berufskrankenkassen werden vom Gesetzgeber festgelegt und sind deshalb weitgehend identisch. Die Chipkarte, mit der ein Versicherter in Österreich zu Kassenärzten gehen kann, gilt auch als Europäische Krankenversicherungskarte (EKVK). In Vorarlberg - und möglicherweise auch bald in anderen österreichischen Bundesländern - kann man darauf auch elektronische Rezepte speichern, was chronisch Kranken viele Fahrten und Wartezeiten erspart.

Verschriebene Medikamente kosten Versicherte eine Rezeptgebühr in Höhe von pauschal 5,70 Euro. Hat jemand ein sehr geringes Einkommen, wird er auf Antrag von dieser Zuzahlung befreit. Verdient er für eine Vorabbefreiung zu viel, kann er die Zuzahlung beim Erreichen von zwei Prozent des Jahresnettoeinkommens stoppen lassen.

Beim Zahnarztbesuch übernehmen die österreichischen Kassen außer dem Ziehen von Zähnen alle "konservierenden" Maßnahmen wie beispielsweise Bohren und Füllen. Besteht ein Patient aus ästhetischen Gründen auf Kunststofffüllungen, erhält er 80 Prozent erstattet; beim Zahnersatz sind es höchstens 60 Prozent. Für Sehhilfen beträgt die Selbstbeteiligung für Erwachsene 100 und für Kinder 30 Euro.

Trotz der nur halb so hohen Beiträge gewähren die österreichischen Krankenkassen auch eine Lohnfortzahlung und Krankengeld. Dauer und Höhe hängen davon ab, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, wie lange ein Arbeitnehmer beschäftigt war und wann er das letzte Mal länger erkrankte.

Private Krankenversicherer wie Allianz und Generali bieten in Österreich nur Zusatzversicherungen an, die beispielsweise die Unterbringung in einem Krankenhauseinzelzimmer oder die Behandlung durch einen "Alternativheiler" oder einen Privatarzt abdecken. Zu solchen Privatärzten können auch nicht zusatzversicherte Patienten gehen. Die Leistungen werden dann nicht direkt mit der Kasse, sondern privat abgerechnet, wobei dem Patienten 80 Prozent der Kosten erstattet werden, die ein Kassenarzt für die gleiche Behandlung bekommen hätte.

Zweierlei Wettbewerb

Der angeblich leidende Wettbewerb, den mehrere andere Unionspolitiker bei ihrer Ablehnung einer Bürgerversicherung ins Spiel brachten, ist bei den deutschen Vollprivatversicherern vor allem ein Wettbewerb um die jüngsten und gesündesten Versicherten. Der freie Wechsel zwischen Versicherungen ist wegen der diskriminiatorischen Beitragsstaffelung nämlich sehr eingeschränkt, was zur Folge hat, dass die Opportunitätskosten (vgl. Gratisdienste und Opportunitätskosten) für Versicherte so hoch sind, dass ein Preis- oder Leistungswettbewerb kaum stattfindet.

Auswege böten eine Aufnahmepflicht für private Versicherungen und ein Diskriminierungsverbot nach Alter, Geschlecht oder körperlichen Prädispositionen. Sie wären - auch im Hinblick auf künftig mögliche Gentests - Voraussetzung für einen Wettbewerb, der nicht über Ausschluss, sondern über Effizienz ausgetragen wird (vgl. Für ein Antidiskriminierungsgesetz im Gesundheitswesen).