Erbarmungsloses Gaffen

Soziale Medien und Empathie

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Ist dies ein neues Phänomen? Oder gab es diese unerbittliche, rohe Schaulust schon immer? Horden von Gaffern filmen die Szenerie eines Unfalls und behindern dabei sogar die Rettungskräfte. Es zeugt von Hilflosigkeit, wenn sich Kräfte der Feuerwehr bemüßigt sehen, filmende Gaffer anzuspritzen, oder sich die Polizei über die Skrupellosigkeit der schamlosen Gaffer empört. Sind dies extreme Einzelfälle, wenn Schaulustige einem Selbstmordwilligen "Spring doch!" zurufen, um die Szene mit ihrem Handy zu filmen? Oder sind es tatsächlich extreme Ausprägungen eines neuen gesellschaftlichen Phänomens, wenn ein junges Mädchen den Tod ihrer Schwester bei einem Autounfall, den sie selbst verursachte, live für ihre Instagram-Follower filmt?

Natürlich ist zunächst nicht unplausibel festzuhalten, dass das "Unmenschliche zur Menschheitsgeschichte" gehört. Zu denken ist an die grausamen Spektakel der Gladiatorenkämpfe im antiken Rom; auch öffentliche Hinrichtungen im Mittelalter glichen wohl oft Volksfesten. Wir wollen dennoch im Folgenden, entgegen einer vermuteten Kontinuität menschlicher Grausamkeit, soziologisch informiert erläutern1, dass sich in unserer Gesellschaft neue Formen der Kommunikation ausdifferenziert haben, die narzisstisches, selbstbezogenes Handeln wahrscheinlicher machen, als früher.

Bekanntlich, folgt man Marx und Engels, bestimmt das Sein das Bewusstsein. Wobei das "Sein" der Menschen als "animal sociale" im wesentlichen ihrer kommunikativen Umwelt entspricht, den Formen der Kommunikation, denen sie sich aussetzen. Und natürlich gilt ebenso: Das Bewusstsein wiederum beeinflusst die Form der möglich werdenden Kommunikation. Kaum anzuzweifeln ist, dass sich die kommunikative Umwelt, das kommunikative "Sein" der Menschen, mit dem Aufkommen der sozialen Medien (Facebook, Twitter, Instagram etc.) in den gut letzten 10 Jahren radikal verändert hat. - Ja, es ist tatsächlich erst knapp 15 Jahre her, dass Facebook, mit nunmehr 2 Milliarden aktiven Nutzern, gegründet wurde. Instagram, mit mittlerweile etwa 700 Millionen Nutzern, besteht erst seit etwa 7 Jahren. Sollte angesichts dieser radikalen Veränderungen nicht mit gravierenden Bewusstseinsveränderungen gerechnet werden?

Kommunikation abseits sozialer Medien

Was aber ist es genau, was sich in den letzten 10 Jahren in der kommunikativen Umwelt der Menschen geändert hat? Dazu muss notwendig zunächst erläutert werden, welche Form der Kommunikation paradigmatisch die Abwesenheit von Kommunikation in den sozialen Medien charakterisiert. Dialogische Kommunikation auf Augenhöhe, Face-to-Face Kommunikation in gegenseitig synchroner, körperlicher Anwesenheit, kann paradigmatisch als Kommunikation abseits der sozialen Medien verstanden werden.

Kennzeichnend ist hier die gegenseitige Intransparenz des Bewusstseins der so Kommunizierenden. Gerade aufgrund dieser Intransparenz ist, zumal bei zunächst gegenseitig unbekannten Personen, zu erwarten, dass sich in diesen Situationen nicht Spezifisches erwarten lässt. Angesichts der Intransparenz des je anderen Bewusstseins ist von größtmöglicher gegenseitiger Erwartungsunsicherheit auszugehen.

Orientieren sich die Erwartungen der Kommunizierenden in Gegenseitigkeit an den (bewussten und daher intransparenten) Erwartungen des je Anderen, entsteht ein Zirkel, gewissermaßen eine kommunikative Schwelle, die erst zu überwinden ist, um Kommunikation zu initiieren. Niklas Luhmann spricht hier von "doppelter Kontingenz": "Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will."2

Wir gehen davon aus, dass es diese soziale Disposition der gegenseitigen individuellen Orientierung ist, die Empathie fordert und fördert. Eine Haltung, die den Kommunizierenden, gerade angesichts der synchronen körperlichen Anwesenheit - eben keine Selbstverständlichkeit, wie die sozialen Medien zeigen -, ein hohes Maß an gegenseitiger Aufmerksamkeit abverlangt, um den Risiken von irrigen Erwartungen zu entgehen. Jedes Stirnrunzeln, eine hochgezogene Augenbraue, ein starrer Blick mag die Notwendigkeit indizieren, Erwartungen bzw. Erwartungserwartungen abzuändern, anzupassen. Dies umso mehr, da hier angemessen schnell zu reagieren ist. Zögern, zu starkes Zaudern, lässt selbst erwarten, dass derartiges (unangemessenes) Zeitmanagement zu allenfalls unerwünschten Erwartungen führt.

Auch Empathie vermag es selbstredend nicht, das Bewusstsein des je anderen zu durchdringen. Vielmehr steigert sich Empathie gerade an der gegenseitigen, undurchdringlichen Intransparenz des Bewusstseins, führt zu raffinierter sozialer Reflexion, um die Undurchschaubarkeit des Bewusstseins zu kompensieren. Selbst subtiles Verhalten wird charakterisiert, der Kleidungsstil, Ticks, Nervosität in bestimmten Situationen, (mangelnde) Souveränität im Auftreten, Selbst(un)sicherheit, Tonlage der Stimme etc., wird registriert und typisiert, um an diesen Generalisierungen selbst - und an Abweichungen davon - Informationen zu gewinnen.

So mag Person A Person B, angesichts beobachteter subtiler Hinweise, trotzdem einen Gefallen gerade deshalb anbieten, weil A weiß, dass B gerne um einen Gefallen bitten würde, diesen Wunsch aber nicht ausspricht, weil B weiß, wie A vermutet, dass die (der Umstände halber wahrscheinliche) Ablehnung des Gefallens, A, angesichts ihrer tiefen Freundschaft, sehr schwer fallen würde.

Die gemeinhin positive Konnotation von Empathie, von taktvoller Kommunikation ist voreilig. Denn es lässt sich leicht zeigen, dass auch Sadisten "einfühlsame Menschen" sind. Auch intrigantem Verhalten (Mobbing) ist Empathie sicherlich förderlich. "Rosenkriege" (bei Scheidungen) lassen sich mit Hilfe von Empathie effizienter ausfechten, für Stalking, für On-Off-Beziehungen ist Empathie sicher die treibende Kraft. Wir wollen deshalb, jenseits von Moralität, lediglich festhalten, dass für empathische Kommunikation entscheidend ist, dass diese an individuellen Personen orientiert ist. Keine Selbstverständlichkeit heutzutage, wie an den sozialen Medien verdeutlicht werden kann.