"Keinen Inch weiter nach Osten": Was den Russen zur Wiedervereinigung über die Nato versprochen wurde

Jetzt frei gegebene Dokumente zeigen, dass die westlichen Regierungen den zu naiven Gorbatschow mit falschen Versprechungen hereingelegt haben

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Immer wieder wurde von Politikern der Nato-Mitgliedsstaaten beteuert, es habe bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands keine Zusicherungen an Russland gegeben, dass sich die Nato nicht über Ostdeutschland hinaus nach Osten erweitert. An den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag haben neben der Sowjetunion, die USA, Frankreich, Großbritannien, BRD und DDR teilgenommen.

Der damalige US-Präsident George H.W. Bush hatte zur Bedingung gemacht, dass das vereinte Deutschland Nato-Mitgliedsstaat wird bzw. bleibt. Obgleich nach dem Vertrag Deutschland "auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen" verzichtet, gab es weiterhin das Schlupfloch mit der sogenannten "nuklearen Teilhabe" an US-Atomwaffen, mit denen im Konfliktfall deutsche Flugzeuge ausgerüstet werden können. Die ostdeutschen Bundesländer müssen atomwaffenfrei bleiben: "Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt."

Ursprünglich hatte die Sowjetunion den Austritt Deutschlands aus der Nato gefordert, Gorbatschow stimmte schließlich zu, dass Deutschland frei über eine Bündniszugehörigkeit entscheiden kann. Man muss vermuten, dass es hier weitere Vereinbarungen gegeben haben muss, schließlich sind die Vorkehrungen für Ostdeutschland klar genug, dass hier weder ausländische Truppen noch Atomwaffen stationiert werden dürfen. Ohne eine gewisse Garantie, dass sich die Nato nicht weiter nach Osten ausdehnt, wird Gorbatschow dem Nato-Beitritt des vereinten Deutschlands wohl sonst nicht zugestimmt haben.

"Persönliche Versicherungen von Nato-Führungspersonen ... stellen kein formales Nato-Übereinkommen dar"

Offiziell bestreitet die Nato dies im Rahmen der Widerlegung von "mythischen Provokationen, Bedrohungen und feindlichen Aktionen", die von Russen gegenüber der Nato geäußert wurden. Dabei geht es auch um das bei der Wiedervereinigung angeblich gegebene Versprechen, dass sich die Nato nicht nach Osten erweitern werde. Die Nato versichert, dass man Entscheidungen im Konsens trifft und diese aufzeichnet: "Es gibt keine Aufzeichnung irgendeiner solchen Entscheidung durch die Nato. Persönliche Versicherungen von Nato-Führungspersonen können keinen Nato-Konsens ersetzen und stellen kein formales Nato-Übereinkommen dar." Überdies sei die Nato nach Artikel 10 des Gründungsabkommens offen für jedes europäische Land. Den Artikel habe man niemals eingeschränkt.

Das National Security Archive (NSA) der George Washington University hat nun Dokumente veröffentlicht, die zwar die Aussage der Nato nicht wiederlegen, aber doch deutlich machen, dass die westlichen Regierungsvertreter dies damals der Sowjetunion zugesagt haben. Gorbatschow war vermutlich zu vertrauensselig gegenüber dem doppelten Spiel der Westpolitiker und hat sich auf die Versprechen verlassen. So hatte der US-Außenminister James Baker bei einem Treffen mit Gorbatschow am 9. Februar 1990 versprochen, die Nato werde sich "keinen Inch weiter nach Osten" erweitern. Die bekannte Äußerung sei "Teil einer Kaskade von Versicherungen", die Gorbatschow und anderen Vertretern der Sowjet-Regierung gemacht wurden. Verwiesen wird auf den ehemaligen CIA-Direktor Robert Gates, der den "Druck" kritisierte, "die Nato nach Osten zu erweitern, nachdem Gorbatschow und andere im Glauben gelassen wurden, dass dies nicht geschehen wird".

Die US-Botschaft in Bonn schickte nach einer Rede des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher am 31. Januar im Tutzing ein Dokument nach Washington, dass die Nato eine Osterweiterung und ein Näherrücken an sowjetische Grenzen ausschließen sollte. Genscher habe vorgeschlagen, Ostdeutschland auch nach einer Wiedervereinigung außerhalb der Nato zu lassen. Die "Tutzing-Formel" führte dann zur Bekundung des Einverständnisses zur Wiedervereinigung bei einem Treffen von Gorbatschow und Genscher am 10. Februar in Moskau, sofern die Nato nicht weiter nach Osten vorrückt. Im Protokoll des Treffens von Genscher mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd ging es auch wieder darum, dass die Russen Zusicherungen bräuchten, "beispielsweise dass dann, wenn die polnische Regierung eines Tages den Warschauer Pakt verlassen sollte, sie nicht in die Nato eintreten".

US-Außenminister Baker wiederholte nach einem Treffen mit Genscher dessen Formulierung gegenüber dem russischen Außenminister Eduard Schewardnadse und auch gegenüber Gorbatschow. Baker sagte am 9. Februar Gorbatschow, weder er noch der US-Präsident würden aus den stattfindenden Prozessen "irgendeinen unilateralen Vorteil" ziehen wollen. Dabei versicherte er, dass "sich die gegenwärtige militärische Jurisdiktion der Nato keinen Inch nach Osten verbreiten" werde.