Die baskische Regierung zählt 4.113 Folterfälle, 73% nach dem Tod Francos

Studienleiter Paco Etxebarria bei der Suche und Ausgrabung von Massengräbern der Franco-Diktatur. Bild: R. Streck

Eine erste offizielle Studie zeigt den massiven Einsatz von Folter in Spanien gegen Basken, auch seit dem Ende der Franco-Diktatur

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Baskische Kriminologische Institut der baskischen Universität und die baskische Regierung haben die Studie zu Folter und Misshandlungen an Bürgern der Baskischen Autonomen Gemeinschaft (CAV) vorgelegt, die den Zeitraum bis 2014 abgedeckt hat. Die nun veröffentlichte Studie wurde von einem Team unter Leitung von Paco Etxeberria erstellt. Etxeberria ist ein international anerkannter Gerichtsmediziner und forensischer Anthropologe. Der Professor für Rechtsmedizin lehrt an der baskischen Universität und hat als Gerichtsmediziner an vielen forensischen Exhumierungen teilgenommen, unter anderen an der Exhumierung des während des Putschs ermordeten chilenischen Staatschef Salvador Allende. Er untersuchte auch den Völkermord in der von Marokko besetzten Westsahara und die Morde von den staatlich organisierten Todesschwadronen in Spanien.

Schon vor gut einem Jahr war ein Vorbericht über die Folter seit 1960 bis heute vorgelegt worden. In dem nun veröffentlichten Bericht werden insgesamt 4.113 bestätigte Fälle gezählt, aber in fast 500 Fällen sei die Analyse noch nicht abgeschlossen. Er macht deutlich, dass es einen massiven Einsatz von Folter gab, denn weder umfasst er die Folterfälle im angrenzenden Navarra noch die Fälle im Rest des spanischen Staats. Man hat sich nur auf die Bürger der drei baskischen Provinzen beschränkt, welche die CAV bilden. Doch auch die große Zahl kann den erlebten Horror der Opfer nicht darstellen. "Es gibt keine Worte in Sprachen und Wörterbüchern, um das Leiden einer Person zu beschreiben, die gefoltert wird", sagte Paco Etxeberria bei der Vorstellung.

Es seien viele Menschen in die Räume des Instituts gekommen, die sich auch das Mikrophon angelegt hätten, um ihre Aussage aufzunehmen. Doch dann sei es für sie unmöglich gewesen, Zeugnis abzulegen und die erlebte Folter noch einmal zu durchleben. Aus diesem Grund, aber vor allem aus der Tatsache, dass in einigen Fällen eine sehr lange Zeitspanne vergangen ist, wird angenommen, dass die angeführte Zahl der Folterfälle bei weitem nicht die reale Zahl widerspiegelt und die reale Zahl deutlich darüber liegt. Zudem konnten Opfer, wie die Baskin Nekane Txapartegi, gar nicht vom Institut befragt werden. Sie lebt seit sieben Jahren in der Schweiz im Exil.

Trotz allem ist es eine erste Anerkennung der Folter auf institutioneller Ebene. Es handele sich um einen "Schritt", erklärte Jonan Fernández im Namen der baskischen Regierung erklärte. Der Sekretär für Frieden und Koexistenz der baskischen Regierung meinte auch, die Befragungen seien eine sehr wichtige Informationsquelle gewesen. Neben der Zählung von 4.113 Fällen mit insgesamt 3.415 Opfern, einige Personen wurden mehrfach Opfer von Folter, wurden tausende Zeugnisse per Audio oder Video aufgezeichnet und nach dem Istanbul-Protokoll die Glaubwürdigkeit bestätigt.

Beim Istanbul-Protokoll handelt es sich um das Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe. Es ist der Standard der Vereinten Nationen für die Ausbildung in der Begutachtung von Personen, die den Vorwurf erheben, gefoltert oder misshandelt worden zu sein.

Sieht man sich die Aufschlüsselung der Fälle an, fällt auf, dass 73% in die Zeit der "spanischen Demokratie" fallen, also die Zeitspanne nach der Verabschiedung der Verfassung 1978. Allerdings muss auch angefügt werden, dass viele Fälle aus der Zeit der Diktatur nicht mehr aufgenommen werden konnten, weil sie zeitlich meist zu weit zurückliegen. In der Diktatur war die Folter allerdings noch viel verbreiteter.

Die allergrößte Zahl der Folterfälle sind der paramilitärischen Guardia Civil und der spanischen Nationalpolizei zuzurechnen. Fernandez forderte den spanischen Staat auf, eine "unabhängige Untersuchung" durchzuführen und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, damit es zu keiner Folter mehr kommt. In der Studie wird festgestellt, dass in Spanien weiter die Folterpraxis negiert werde. Die Studie schließt sich den Forderungen von Menschenrechtsorganisationen bis zum Sonderberichterstatter für Folter der UNO an und fordert die Abschaffung der berücksichtigten Kontaktsperre, während der die Folter zumeist stattfindet. Kontaktsperre meint die völlige Isolierung der Betroffenen, bei der diese bis zu zehn Tagen weder Kontakt zu ihrem Anwalt noch zur Familie haben.

Selbstkritisch werden in dem Bericht auch 336 Folterfälle der baskischen Regionalpolizei Ertzaintza angeführt. Fernandez verwies aber darauf, dass es im Baskenland ein Modell zur Prävention gäbe, doch das dürfe nicht zu "einer selbstgefälligen Lesart" der Studie führen. Vom Obersten Gerichtshof in Spanien wurden insgesamt 20 Urteile gegen Folterer bestätigt. Von den insgesamt 49 Verurteilten kamen 28 von der Guardia Civil und 21 von der Nationalpolizei. Meist wurden die Verurteilten sehr schnell begnadigt. Spanien wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder verurteilt, weil es Folter nicht untersucht, nicht einmal im Fall von Journalisten.

Folteropfer müssten endlich auch von der Baskischen Regierung anerkannt werden, wird zudem gefordert. Zu den Verpflichtungen, die sich die Regierung in diesem Rahmen gestellt habe, gehört auch das 2016 verabschiedete Opfergesetz, das allerdings vom spanischen Verfassungsgericht blockiert ist. Über dieses Gesetz sollten auch die Folteropfer der Todesschwadronen oder von Polizeieinsätzen anerkennt werden, wogegen die spanische Regierung etwas hat.

"Zwischen Schrecken und Ungläubigkeit"

Das Antifolterkomitee des Europarates (CPT), das bei Spontanbesuchen immer wieder Folterfälle aufdeckt und bisweilen gegen den Willen Spaniens darüber Berichte veröffentlicht, hat die Bemühungen im Baskenland begrüßt. Jeroen Schokkenbroek, CPT-Exekutivsekretär, spricht von einer "ernsthaften Arbeit", die im Baskenland geleistet worden sei. "Es ist wichtig zu untersuchen, was passiert ist, um die geschehenen Dinge zu akzeptieren, um vorwärts zu kommen."

Das nun wieder in Deutschland lebende baskische Folteropfer Tomas Elgorriaga erklärt gegenüber Telepolis, dass es "schon erstaunlich genug" sei, dass eine europäische bürgerliche Regierung einen Bericht zur Folter im eigenen Land - aktuell und in der nahen Vergangenheit - in Auftrag gegeben hat". Dass diese wissenschaftliche Studie tatsächlich durchgeführt werden und veröffentlicht werden durfte, hatte ihn fast misstrauisch gemacht. "Wenn man den sehr sachlichen und von der UNO als seriös anerkannten Untersuchungsbericht liest, wandelt man zwischen Schrecken und Ungläubigkeit: 54 Jahre lang ist in nur drei von vier baskischen Provinzen mit 2,7 Mio. Einwohnern im Schnitt alle 4,7 Tage eine Person gefoltert worden. 54 Jahre lang, ununterbrochen!"

Diese Zahlen stellten aber nur die stringent überprüfbaren Fälle dar. "Die realen Zahlen schätzen die Forscher selbst auf fünf Mal so hoch ein. Denn aus der Franco-Zeit sind nur wenige Daten eingeflossen. Was auch heißt, dass die große Mehrheit der erfassten Folterfälle auf das Konto der spanischen 'Demokratie' gehen. Auf die Bundesrepublik hochgerechnet wären das täglich 6 schwer Gefolterte, 50 Jahre lang. Mitten in Europa."

Der Bericht lese sich wie ein Kompromiss, in dem die Wissenschaftler strikt jeden möglichen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit zu vermeiden versuchen, indem sie nur ausführlich dokumentierte Folterfälle berücksichtigt hätten. "Das mag auf alle weiteren realen Folteropfer beleidigend wirken, stellt aber einen wichtigen Fortschritt sowohl auf dem Weg der nötigen Aufklärung sämtlicher Repressionsexzesse im Kampf gegen das baskische Bestreben nach Selbstbestimmung dar, wie auch zur Unterstützung der Forderungen nach einer Demokratisierung der politischen und sozialen Verhältnisse im spanischen Staat und in ganz Europa."

Er hofft, dass dieser Bericht eine Grundsatzdebatte über Staat und Demokratie in Europa auslöst "Nur dann werden die im Baskenland Gefolterten sowie alle weiteren und künftigen Opfer staatlicher Gewalt Genugtuung finden."