Staatlich legitimierte Selbstjustiz in der Türkei?

Ein Notstandsdekret Erdogans weckt schlimme Befürchtungen

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Der türkische Präsident Erdogan hatte an Weihnachten ein ganz besonderes Geschenk für die Opposition auf Lager. Er erließ ein neues Notstandsdekret, welches für diejenigen Zivilisten Straffreiheit vorsieht, die sich in der Putsch-Nacht vom 15. Juli 2016 und danach an der Lynchjustiz gegen die putschenden Militärs beteiligten.

Am 15. Juli 2016 und in den darauffolgenden Tagen gab es blutige Racheaktionen von Zivilisten gegen Soldaten. Auf einer Istanbuler Bosporus-Brücke wurden beispielsweise Soldaten regelrecht gelyncht. Das eingangs genannte Dekret trat am 24.12.2017 in Kraft und wurde am selben Tag im Amtsanzeiger veröffentlicht. Es kann während des aktuellen Ausnahmezustandes nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden.

AKP-Sprecher Mahir Ünal sagte auf der Pressekonferenz am 25. Dezember, "jegliche Strafverfolgung gegenüber den tapferen Menschen, die ihr Land mit ihren bloßen Händen hielten und das Land in dieser Nacht und am nächsten Morgen um den Preis ihres Lebens beschützten, sei zu vermeiden."

"Staatsnotwehr"? In jedem Fall ein bedenkliches Dekret

Erdogans Dekret Nr. 696 lässt an ein Gesetz Hitlers aus dem Jahr 1934 denken. Dieser erließ damals als Reaktion auf den Röhm-Putsch das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr mit folgendem Wortlaut: "Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30.Juni, 01. und 02. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens."

In einer darauffolgenden Rede vor dem Reichstag am 13. Juli 1934 bezeichnete er sich als "des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr". Der Reichstag billigte die Erklärung und dankte Hitler für die Rettung vor Bürgerkrieg und Chaos.

Am 30. Juni 1934 ließ Hitler die gesamte SA-Führung verhaften. Im ganzen Land wurden hochrangige SA-Mitglieder festgenommen und liquidiert. In den Tagen vom 30. Juni bis 2. Juli 1934 entledigte sich das Regime unzähliger politischer Gegner, laut Schätzungen kamen bis zu 1.000 Menschen ums Leben.

Erdogans Dekret Nr. 696 nun zum Vergleich im Wortlaut: "Ungeachtet dessen ob sie einen offiziellen Rang oder Amt innehaben, für alle Personen, die gegen Umsturzbestrebungen, wie z.B. den Putschversuch vom 15.07.2017 und terroristischen Bestrebungen oder jegliche Arten von Fortführung dieser Aktivitäten vorgehen, tritt der erste Paragraph in Kraft."

Paragraph 1 lautet: "Jeder der sich dazu entschließt gegen Umsturzbestrebungen, wie z.B. den Putschversuch vom 15.07.2017, terroristischen Bestrebungen oder jegliche Arten von Fortführung dieser Aktivitäten vorzugehen, (…) ist von rechtlichen, administrativen, finanziellen und strafrechtliche Verfolgungen ausgeschlossen."

Während Justizminister Abdülhamit Gül und der AKP-Sprecher Mahir Ünal davon sprachen, das Dekret beziehe sich nur auf die Ereignisse am 15.7.16 und den darauffolgenden Morgen, steht jedoch im §1 des Dekretes: "(...) terroristischen Bestrebungen oder jegliche Arten von Fortführung dieser Aktivitäten vorzugehen, (...)."

Damit erhalten zivile, paramilitärische oder kriminelle Individuen und Gruppen die Erlaubnis, jegliche Opposition, jeglichen Protest und zivilgesellschaftliche Kritik unter Verweis auf dieses Dekret mit Waffengewalt niederzuschlagen.

Wenn man bedenkt, dass Ende 2016 ca. in der Türkei 20 Millionen Waffen im Umlauf gewesen sein sollen und davon ca. 17 Millionen nicht registriert waren, kann einem Angst und Bange werden.

Kontroverse Diskussionen in der Türkei

Alle im türkischen Parlament vertretenen Parteien außer der AKP kritisierten das Dekret, weil es weiteren Eskalationen zwischen Erdogan-Anhängern und Kritikern Tür und Tor öffne.

Die stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion der Demokratischen Volkspartei (HDP) im Parlament sagten, die Regierung biete radikalen Kreisen mit dem Dekret einen Freibrief zur Unterdrückung der Opposition an.

Der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Bülent Tezcan, bezeichnete die jüngsten Dekrete als "neue Putsch-Memoranden". "Militärputsche regieren das Land mit dem Kriegsrecht und Staatsstreiche regieren das Land mit Notstandsverordnungen", sagte Tezcan in einer schriftlichen Erklärung am 24. Dezember.

So etwas geschieht in Diktaturen, die die Gesellschaft mit einer zivilen Miliz einschüchtern und terrorisieren wollen.

Bülent Tezcan

Der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, fragte auf einer Pressekonferenz: "Was passiert mit jemandem, der einen regierungskritischen Demonstranten erschlägt, der leicht als Terrorist denunziert werden kann?... Der Mann geht straffrei aus, genauso wie diejenigen, die am 15. Juli 2016 bereits entwaffnete Rekruten gelyncht haben."

Der frühere Staatspräsident Abdullah Gül, einer der Mitbegründer der AKP, warnte vor der vagen Formulierung des Dekrets:

Ich hoffe, dass es überprüft wird, damit es keine Ereignisse und Entwicklungen ermöglicht, die uns in Zukunft alle beunruhigen würden.

Abdullah Gül

Auch Meral Akşener, die Vorsitzende der neu gegründeten, nationalistischen İYİ-Partei (Gute Partei), warnte, dass mit dem Erlass ein "Bürgerkrieg" entfesselt werden könnte.

Metin Feylzioğlu, der Leiter der Anwaltskammern in der Türkei, äußerte sich bestürzt über den Erlass: "Ich war erschrocken, als ich das Dekretgesetz Nr. 696 las. (...) Ich hoffe, sie werden irgendwann zur Vernunft kommen. Ich verstehe wirklich nicht, was sie tun."

An die Adresse des Präsidenten, den Premierminister und an die Minister, die das Dekret unterschrieben hatten, gerichtet fragte er: "Wozu existiert das Parlament? Warum hat diese Nation das Parlament am 15. Juli geschützt?"

Ahmet Hakan, Kolumnist der Tageszeitung Hürriyet, befürchtet durch das Dekret könnten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse entstehen und Attentäter könnten sich auf das Dekret berufen: "Was passiert, wenn jemand einen anderen erschießt und sagt: Ja, ich habe ihn erschossen, aber er war ein Terrorist?"