John le Carré und das Vermächtnis der Spione

Tinker Tailor Soldier Spy

Eine literarische (und filmische) Reise weg von der Demenz. In zwei Etappen.

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My story really begins in 1938.

George Smiley in Call for the Dead

David Cornwell, besser bekannt unter dem Pseudonym John le Carré, hat einen Roman geschrieben, in dem seine berühmteste Figur einen letzten Auftritt hat, der Meisterspion und zeitweilige Geheimdienstchef George Smiley. Das Buch heißt A Legacy of Spies und führt uns zurück in die Nachkriegszeit, um uns daran zu erinnern, was wir seitdem vergessen haben. Der Roman ist eine Absage an den neuen Nationalismus, an das Errichten von Mauern und an den Wunsch, auf die in einer verbrecherischen Vergangenheit erbrachten Leistungen stolz sein zu dürfen.

George Smiley, der Gegenentwurf zu James Bond, ist legendär. Le-Carré-Leser lieben ihn. Für den Autor ist das ein Segen und zugleich ein Fluch. Insbesondere in der Verkörperung durch den genialen Alec Guinness in zwei Mehrteilern der BBC hat sich der kleine rundliche Mann mit den schlecht sitzenden, wie die Haut einer Kröte wirkenden Anzügen, der ihn permanent betrügenden Gattin und dem Faible für deutsche Barockliteratur von seinem Schöpfer emanzipiert und ein Eigenleben gewonnen. Le Carré hielt es seinerseits für nötig, sich von seiner Romanfigur und den mit ihr verknüpften Erwartungen zu befreien.

Nachdem 1979 die "Karla-Trilogie" mit Smiley’s People abgeschlossen war (Karla ist Smileys Gegenspieler beim KGB) hielt der pensionierte Geheimagent 1990 noch eine Rede in The Secret Pilgrim, um sodann, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, aus der Romanwelt des Autors zu verschwinden. Jetzt ist er also wieder da, und mit ihm ist ein alter Plan zurück, zu dem le Carré einst die Lektüre von Honoré de Balzac inspirierte: eine Reihe von Romanen mit Charakteren zu schreiben, die in einem Buch als Nebenfigur agieren und in einem späteren ins Zentrum der Handlung rücken wie in Balzacs Romanzyklus La Comédie humaine (Die menschliche Komödie).

Zwischen Atlantikwall und Stonehenge

In A Legacy of Spies taucht George Smiley erst ganz am Schluss auf, obwohl er - wie es sich für eine Legende gehört - in den Gedanken und Gesprächen der handelnden Personen ständig präsent ist. Hauptfigur ist Peter Guillam, der als junger Mann von Smiley rekrutiert wurde und ihn in Tinker Tailor Soldier Spy (1974) dabei unterstützt hat, den für den KGB arbeitenden Maulwurf in der Führung des "Circus" zu enttarnen, einer fiktionalen Mischung aus den Geheimdiensten MI6 (Ausland) und MI5 (Inland). Mittlerweile muss er über 80 sein.

Tinker Tailor Soldier Spy

Guillam hat sich im Heimatdorf seiner Mutter zur Ruhe gesetzt, auf einem von ihr geerbten Bauernhof in der Bretagne. Auf dem Weg dorthin kommt man am Schrottplatz eines übel beleumundeten Herrn namens Honoré vorbei, bei dem man Krimskrams, alte Autoreifen und Pferdemist zum Düngen kaufen kann. Das ist le Carrés selbstironischer Kommentar zum von Balzac übernommenen, mit der Abwendung von George Smiley eingestellten und nun wiederbelebten Verfahren. Auch dieses Buch ist - wie alle Romane le Carrés - mit subtilen Hinweisen durchwirkt, was von einem Respekt gegenüber dem Leser zeugt, der den meisten Bestsellerautoren völlig fremd ist.

Der internationale Durchbruch gelang le Carré 1963 mit The Spy Who Came in from the Cold. William Boyd, selbst Verfasser eines geschickt konstruierten Spionageromans (Restless, 2006), hat für eine Neuauflage ein Vorwort geschrieben, in dem es heißt, das Buch sei ebenso spannend wie kompliziert. Für Boyd ist das ein unzweideutiges Kompliment: "Es gibt ganz viel herausfordernden Subtext, eine Menge ist implizit, eine Menge erscheint zunächst verwirrend."

Mit anderen Worten, das Buch ist anspruchsvoll und raffiniert, und ein Reiz des Anspruchsvollen in der Kunst besteht darin, dass die so zum Ausdruck kommenden Vorlieben, Werte und Understatements geteilt werden. Le Carrés Roman sagt gleichsam: Ich weiß, dass das übermäßig komplex und vernebelnd erscheint, aber du, der Leser, bist eine intelligente Person. Du wirst dem folgen - du wirst verstehen, was passiert; ich muss es nicht für dich ausbuchstabieren oder die Pünktchen für dich verbinden. Das ästhetische Vergnügen des Lesens wird dadurch massiv gesteigert."

Auch vom Vermächtnis der Spione sollte man nicht erwarten, dass einem ausbuchstabiert wird, was man zu denken hat. Das muss man selber machen, wenn man das ästhetische (und intellektuelle) Vergnügen haben will, das damit verbunden ist. Ein gutes Beispiel findet sich in Kapitel 2, wo Guillam beschreibt, wie man von der Stadt Lorient in sein Dorf kommt. Zuerst, sagt er, fährt man etwa eine halbe Stunde die südliche Küstenstraße hinunter. Dabei passiert man Überreste von Hitlers Atlantikwall, die sich nicht entfernen lassen und, so Guillam, dabei seien, den Status "eines neuzeitlichen Stonehenge" zu erlangen.

Le Carré hat seine Gründe, wenn er Peter Guillam in dieser Gegend wohnen lässt. Wer malerische bretonische Hafenstädte mit Jugendstilarchitektur mag macht um Lorient besser einen großen Bogen. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Unterstände für die deutschen U-Boote angelegt. Mit Luftangriffen waren die Betonbunker nicht zu zerstören. Darum bombardierten die Alliierten die Versorgungswege. Von Lorient blieb nicht viel übrig. Nach dem Krieg wurde die Stadt fast komplett neu aufgebaut - ohne Zugeständnisse an Nostalgie und alte Bausubstanz und als ville nouvelle, wie man in Frankreich dazu sagt.

Etwa 30 Kilometer von Lorient entfernt kommt man an Honorés Schrottplatz vorbei, und dann ist man im Dorf Les Deux Eglises, zu dem auch Guillams Bauernhof gehört. Die Post bringt Monsieur Denis, den man "le Général" nennt, weil er hoch aufgeschossen ist und vage an Charles de Gaulle erinnert. Zumindest geschichtsbewusste Franzosen beginnen da zu ahnen, warum Guillam in einem Dorf mit diesem Namen wohnt. In Colombey-les-Deux-Églises hatte der General seinen Alterswohnsitz. Heute gibt es dort eine Gedenkstätte, das Charles de Gaulle Mémorial.

Denkmal für General de Gaulle in Colombey-les-Deux-Églises. Bild: Stefan Kühn / CC-BY-SA-3.0

Colombey liegt im Nordwesten Frankreichs und nicht in der Bretagne, aber der rosa Granit, aus dem das 44 Meter hohe Lothringer Kreuz der Gedenkstätte gefertigt wurde, stammt von da. Das Lothringer Kreuz war das Symbol der von de Gaulle geführten Exilregierung (mit Sitz in London). Die wahrscheinlichste von mehreren Erklärungen für die 44 Meter ist die, dass 1944 das Jahr der Invasion der Alliierten in der Normandie war (es ist auch das Jahr, in dem Guillams Vater starb). Symbolik ist sehr wichtig. Europa krankt daran, dass die Brüsseler Bürokratie wenig Sensibilität für so etwas hat.

Warum erzähle ich das alles? Weil es Aufschluss über die Textur des Romans gibt und weil es zeigt, wie kunstvoll das Buch organisiert ist. Churchill und de Gaulle, prägende Gestalten der Anti-Hitler-Koalition, sind zwei von den "Pünktchen" (Boyd), durch deren Verbindung man zu einem Gesamtbild aus Themen und Motiven gelangt, die den Roman charakterisieren. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs kann man so wenig ohne diese beiden Staatsmänner rekapitulieren wie die Geschichte der Europäischen Union.

Churchill hielt am 19. September 1946 in Zürich eine berühmte Rede, in der er zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich aufrief sowie zur Gründung einer Union, der Vereinigten Staaten von Europa, mit der Schaffung eines Europarats als erstem Schritt. Aus Churchills Sicht war das ein Friedensprojekt für den europäischen Kontinent, welches das Vereinigte Königreich wohlwollend begleiten sollte, ohne selbst mitzumachen. In den 1960ern, als ihre Wirtschaft daniederlag, wären die Briten der ökonomisch prosperierenden Union gern beigetreten, mussten aber feststellen, dass es nun der französische Staatspräsident de Gaulle war, der solche Pläne blockierte.

A Legacy of Spies beginnt mit Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg und endet mit einem Bekenntnis zu Europa. Das sind die beiden Pole, zwischen denen die Handlung angesiedelt ist und die erklären, warum le Carré dieses Buch geschrieben hat. Einige Kritiker haben eine melancholische Stimmung ausgemacht. Bei einem inzwischen 86-jährigen Autor, der einen Roman über Tote und alte Männer schreibt, wäre das kein Wunder. Le Carrés Wut aber, die Wut über den Zynismus hartleibiger Bürokraten, über den Verrat an der Menschlichkeit und über die Geschichtsvergessenheit, ist jung geblieben. Die Nostalgie hat da einen schweren Stand.

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