Liebe Verschwörungs-Experten...

Gegendemonstration zu den Protesten in Chorramabad mit Poster des Führers Ali Chamene’i. Foto: Tasnim News Agency/ CC BY 4.0

Kaum gibt es irgendwo größere Proteste, wird das Netz von Verschwörungs-Experten geflutet, die ganz genau wissen, was läuft. Ein Kommentar

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Liebe Verschwörungs-Experten,

im Sommer 2013 versammelten sich im Istanbuler Gezi-Park Demonstranten und protestierten gegen den geplanten Abriss des Parks. Die Polizei griff ein. Binnen weniger Tage weitete sich der Protest zu einem landesweiten Aufstand gegen die AKP-Regierung aus. Er wurde blutig niedergeschlagen.

Jahreswechsel 2017/2018: Im iranischen Maschhad gehen Demonstranten auf die Straße und protestieren gegen steigende Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Ungleichheit. Binnen weniger Tage weitet sich der Protest auf das ganze Land aus und richtet sich zunehmend gegen die religiös-konservative Regierung in Teheran. Die Revolutionsgarden reagieren mit Gewalt, es kommt zu Massenverhaftungen, mindestens 23 Menschen werden getötet, die Situation wird unübersichtlich.

Was haben diese beiden inhaltlich sehr unterschiedlichen Ereignisse - die ich deshalb herausgreife, weil ich über beide berichtet habe und berichte - gemeinsam, mal abgesehen von vergleichbaren Dynamiken? In beiden Fällen haben wichtige politische Akteure, gegen die sich der Zorn der Demonstranten richtete, das Ausland verantwortlich gemacht.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verweist bis heute bei jeder noch so absurden Gelegenheit auf ominöse ausländische Mächte, die sich gegen seine Regierung (mindestens), wenn nicht gar gegen die gesamte Türkei verschworen haben sollen. Ins selbe Horn blies unlängst der iranische Revolutionsführer Ayatollah Ali Chamenei: Er verortete den Ursprung der Proteste in ausländischen "Feinden Irans".

Ausländische Verschwörungen

Die beiden sind keine Ausnahme. Regelmäßig schwadronieren Diktatoren, die in Bedrängnis geraten, von ausländischen Verschwörungen. Um nichts in der Welt kämen sie auf die Idee, dass ihre Bürger tatsächlich unzufrieden sein könnten. Fehler einzugestehen und sie zu korrigieren ist ihnen fremd. Egal was passiert - immer sind die anderen schuld. Es ist eine Reaktionsweise, die längst vorhersehbar ist.

Große Zustimmung erhalten die Potentaten regelmäßig und wie aufs Stichwort in den Artikelforen jeglicher Medien, die über die Ereignisse berichten, in einschlägigen Verschwörungs-Blogs und YouTube-Kanälen, die, abgesehen von ihrer Überzeugung, dass "Mainstreammedien" grundsätzlich "Lügenpresse" sind, eines eint: Die feste Überzeugung, den totalen Durchblick zu haben. Das geht mitunter so weit, dass es religiöse Züge annimmt. Ein paar Beispiele der letzten Tage:

Der nächste "Regime-Change" der USA. Wie immer mit vielen Lügen, Millionen von Toten und einer widerlich velogenen[sic] deutschen Regierung.

Forum Spiegel Online am 1. Januar 2018

Wieder ein US-gesteuerter Regime-Change-Versch[sic] für "Frieden, Demokratie und Freiheit", in Wahrheit natürlich nur um eine US-Puppet installieren zu können.

Forum Telepolis, 1. Januar 2018

Da werden von außen, gemeinsam mit Israel, "spontane" Proteste organisiert, medienwirksam aufgebläht, und dann wird weiter Öl in die bescheidene Glut gegossen.

Forum Telepolis, 1. Januar 2018

Und so weiter. Im Brustton der Überzeugung. Hinzu kommen Unzählige, die Derartiges zwar nicht als Fakt formulieren, aber doch so, dass man merkt: Eigentlich sind sie davon überzeugt, dass es anders gar nicht sein kann. Eine weitere Gemeinsamkeit: Schuld an allem Übel in der Welt sind stets die USA und Israel.

Nun ist der Gedanke, es könnte(!) einen ausländischen Einfluss geben, nichts, das komplett aus der Luft gegriffen ist. Immerhin haben die amerikanischen Auslandsdienste eine lange Tradition an gewaltsam herbeigeführten Regierungswechseln in Ländern, in denen echte oder vermeintliche wirtschaftliche wie geostrategische Interessen bestanden.

Iran ist das Musterbeispiel dafür: 1953 initiierten amerikanische und britische Dienste einen Aufstand gegen den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh und putschten ihn aus dem Amt.

Dass amerikanische und israelische Dienste in Iran aktiv sind und beide Länder sich dort einen Machtwechsel wünschen ist eine altbekannte Tatsache. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Saudi-Arabien aktiv ist, ist hoch. Dass es zwischen diesen Ländern und ihren Interessen in Syrien, im Irak, im Jemen eine schwer zu überblickende Gemengelage gibt, gehört ebenfalls zu den Fakten.

Und natürlich muss man davon ausgehen, dass Washington und Tel Aviv versuchen oder versuchen werden, die iranische Protestwelle für sich zu nutzen. Ob und inwiefern sie aber zum jetzigen Zeitpunkt aktiv vor Ort involviert sind - und das ist der springende Punkt - lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Es lässt sich nur mutmaßen.

Wilde Mutmaßungen, Wahrscheinlichkeiten ...

Es dennoch umfangreich zu thematisieren hieße, sich in wilden Mutmaßungen zu ergehen - und das hat mit seriösem Journalismus nichts zu tun. Seriöser Journalismus bezieht sich auf die bekannten Fakten der sichtbaren Vorgänge. Er stellt Fragen, er hinterfragt, er interpretiert. Aber er zieht keine voreiligen Schlüsse - insbesondere dann nicht, wenn die Lage so schwierig einzuordnen ist, wie hier.

Heizt möglicherweise die CIA die Proteste an? Ja, das ist möglich. Immerhin deckte die New York Times im vergangenen Juni auf, dass unter Trump aktiver gegen Iran vorgegangen werden soll. Hat die CIA die Proteste losgetreten? Das ist nach aktuellem Kenntnisstand höchst unwahrscheinlich.

Wahrscheinlicher sind gesellschaftliche Eigendynamiken, eine Entladung von jahrelang aufgestautem Frust gegen das Regime (wofür auch die Heterogenität des Protests spricht) sowie ein weiter eskalierender Machtkampf zwischen dem Chamenei-Lager und dem Rohani-Lager.

Dass für viele US-amerikanische, aber auch europäische Regierungen die "Menschenrechte als Alibi"(Bahman Nirumand) herhalten mussten, wenn es um eigene Interessen ging, ist eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache.

Dass es ein unüberbrückbarer Widerspruch ist, Iran in dieser Hinsicht zu verteufeln, im Falle Saudi-Arabiens aber geflissentlich beide Augen zuzudrücken, ist freilich ebenfalls ein mehr als berechtigter Einwand. Beides ist aber keineswegs ein Beleg dafür, dass die aktuellen iranischen Proteste einen solchen Hintergrund haben.

... und "unumstößliche Belege"

Oft wird von der Verschwörungsfraktion dieser Tage auf ein Interview verwiesen, das US-General Wesley Clark vor mehr als zehn Jahren gab und in dem er verrät, dass die Bush-Administration schon vor dem Irak-Einmarsch Pläne für Umstürze in weiteren Ländern, darunter Iran, gehabt haben soll.

Auf die Idee, dass es sich dabei nicht um festgefügte Vorhaben, sondern um Planspiele handelte, die irgendwo zwischen 2002 und heute längst begraben wurden, kommt Ihr, liebe Verschwörungs-Experten, nicht. Nein, im Gegenteil. Ihr seht in diesen Aussagen von 2007 den unumstößlichen Beleg dafür, dass die USA hinter den Demonstrationen stehen und - auch oft angebracht - ein zweites Syrien schaffen wollen.

Den Verdacht des Unseriösen oder gar der Propaganda machen zahlreiche Kommentatoren aber auch an anderen Aspekten - nicht nur dem Faktum, dass die ihrer Überzeugung nach unumstößlichen Wahrheiten ungenannt bleiben - fest. Zum Beispiel daran, dass über die Proteste in Iran nun so groß berichtet wird, während Proteste in manchen anderen Ländern oft nur Radnotizen bleiben oder jedenfalls weit weniger intensiv verfolgt werden.