Gefängnis für Flaschenwürfe

Screenshot aus einem Fahnungsvideo der Polizei Hamburg.

G20-Urteil ist rechtsstaatswidrig und politisch begründet

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Das Urteil schockierte. Es löste Protest und eine bundesweite Diskussion aus. Wut auf der einen Seite, Genugtuung auf der anderen: In einem sogenannten G20-Prozess verurteilte das Amtsgericht Hamburg einen 21 Jahre alten mutmaßlichen Flaschenwerfer zu zwei Jahren und sieben Monaten Gefängnis. Bewährung ist schon wegen der Höhe der Strafe ausgeschlossen.

Was nun erneut schockiert, sind die Gründe, die das Gericht zum Urteil vom 28. August verfasst hat: Es bemisst die Strafe ausdrücklich politisch. Der Richter zieht strafschärfend heran, dass der Gesetzgeber rohes Verhalten gegen Polizisten härter bestrafen wolle. Dieser Punkt ist aber schon in der Spanne zwischen Mindest- und Höchststrafe enthalten. Er fließt doppelt in das Urteil ein. Das ist rechtswidrig. Und es ist nicht das Einzige, das an dieser Entscheidung falsch ist.

Der Angeklagte aus den Niederlanden soll am Abend des 6. Juli 2017 zwei Glasflaschen auf einen Polizisten geworfen haben. Die erste zerschellte und löste Schmerzen beim Opfer aus. Die zweite traf ohne Folgen. So sollen es Zeugen dem Gericht beschrieben haben. Ein Polizist habe beide Würfe beobachtet. Der Getroffene habe den zweiten Wurf gesehen. Den mutmaßlichen Angreifer, den Medien Peike S. nannten, hätten beide sicher erkannt und anschließend festgenommen. Dabei habe der Mann sich widersetzt.

Sollte das stimmen, dann wäre Peike S. sozusagen mit Anlauf gegen die Mauer gerannt, die der Gesetzgeber eine Woche zuvor hochgezogen hatte, neben der gefährlichen Körperverletzung: Tätlicher Angriff auf Polizisten ist seit Mai 2017 ein Straftatbestand, Landfriedensbruch und Widerstand wurden verschärft.

Auf die geänderten Gesetze hat Richter Johann Krieten laut Berichten schon im mündlichen Urteil hingewiesen. Der Jurist sei für "markige Worte" bekannt, kommentierten Medien.

Es ist aber mehr als eine Anmerkung mit Unterhaltungswert oder eine Gardinenpredigt, die nebensächlich wäre. Es ist ein Fehler, der das Urteil entwertet, denn der Richter zitiert schriftlich ausdrücklich strafverschärfend die Gesetzesbegründung von CDU/CSU und SPD: "Die Gerichte haben sich mit ihren Entscheidungen schützend vor jene Personen zu stellen, denen der Gesetzgeber einen besonderen Schutz angedeihen lässt und vor jene, die besonders schutzbedürftig sind. Der Gesetzgeber hat es als 'ein wichtiges Anliegen' bezeichnet, den Schutz von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu erhöhen, einen Angriff auf diese als einen Angriff auf 'Repräsentanten der staatlichen Gewalt' bezeichnet..."

Damit macht sich das Gericht eine politische Sicht zu eigen. Ohne Not und ohne das zu dürfen. Flaschenwürfe auf Polizisten versteht der Gesetzgeber nun als größeres Unrecht als früher. Deshalb setzte er den Rahmen für Strafen höher: Die Urteile wurden härter. Der Richter kann aber nicht über dieses Maß hinaus die Strafe ein zweites Mal aus demselben Grund verschärfen, weil ihm die erste Erhöhung womöglich zu milde war. Einem Angeklagten, den Richter wegen Totschlags verurteilen, können sie nicht zusätzlich auftischen, dass ein Mensch gestorben ist. Das ist im Tatbestand bereits enthalten. Das musste der Amtsrichter wissen.

Ein Urteil voller Häme

Strafurteile sind Gebrauchsliteratur für die Öffentlichkeit, auch wenn sie gewöhnlich wenig Leser finden. Es gibt Perlen, wie in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Die benennen in klarer Sprache komplexe Abläufe und erläutern, was davon zu halten sein soll.

Das Urteil gegen Peike S. liegt auf einer anderen Spur. Kaum nachvollziehbar durchsetzt das Gericht seine Absätze mit einzelnen Wörtern in Anführungszeichen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass Zeugenaussagen gemeint sein können. Es könnte ebenso für Distanzierung stehen, für ungläubigen Hohn über "angemeldete" oder "spontane" Demonstrationen, für "soziales Engagement" des Angeklagten. Häme für Begriffe, die der Richter gewissermaßen mit spitzen Fingern anfasst.

Richter Krieten zeichnet ein Bild von einer Demonstration unter dem Motto "Welcome to Hell" auf der St. Pauli Hafenstraße. Von einem Teil der Menge, der später an der Kreuzung Altonaer Straße / Schulterblatt skandiert haben soll "Ganz Deutschland hasst die Polizei". Dass jemand den Angeklagten schon am ersten Schauplatz auch nur gesehen hätte, steht da nicht. Und deshalb hat der 21-Jährige mit dem Gesamtbild eben nichts zu tun. Wirken wird die Skizze aber trotzdem: Sie erzeugt Stimmung und Emotion.

Peike S. soll sich "trotz gerichtlicher Nachfrage nicht dazu erklärt" haben, ob er der "Hausbesetzerszene" angehöre, bemängelt der Richter. Es liest sich wie im Ton der Empörung geschrieben. Als wüsste er nicht genau, dass niemand gegenüber dem Angeklagten ein Recht auf Antworten hat, die über die Personalien hinausgehen. Etwas anderes gibt die Strafprozessordnung nicht her.

Die Feststellungen lassen offen, wie sich die 200 bis 300 Kundgebungsteilnehmer an der Kreuzung Schulterblatt verhalten haben. Und ob das überhaupt für den Vorwurf Landfriedensbruch reicht. Der Text lässt unklar, in welcher Stärke die Polizei vertreten war und was die Beamten taten. Drei müssen wohl vor Ort gewesen sein: Die beiden Zeugen und ein ungenannter weiterer. Der hätte einen Faustschlag gegen einen Umstehenden ausgeteilt, als die Beamten den Angeklagten aus einer Gruppe von 10 bis 15 Teilnehmern heraus festnahmen.

Es ist völlig lebensfremd anzunehmen, dass diese drei Polizisten nach einem gewaltsamen Angriff alleine eine Festnahme starteten, dass sie gegen eine fünffach überlegene Gruppe vorgingen. Und dass sie das so durchsetzen konnten. Ob ein Zeuge dazu überhaupt etwas gesagt hat, bleibt dem Leser des Urteils verborgen.

Erstaunlich detailliert hingegen listet das Urteil auf, dass Peike S. in seinem Land noch nicht unter Verdacht stand, nicht angeklagt wurde, nicht verurteilt. Und dieselben Textbausteine noch einmal für die Situation in Deutschland. Das hat Bedeutung. Denn wer es so aufschreibt, der verhält sich ausländerfeindlich. Für den ganzen Wust angeblicher Strafmilderungsgründe hätte eine einzige kanzleideutsche Textkonserve gereicht: "Der Angeklagte ist bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten." So schreiben es Richter jeden Tag über deutsche Angeklagte.