Aus Sicht der Wissenschaftstheorie

Was sind psychische Störungen? - Teil 3

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Im ersten Teil der Serie ging es um die "amtliche" Fassung psychischer Störungen. Wir haben gesehen, dass die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) eine sehr breite Definition vertritt: Entscheidend sind dafür das subjektive Leiden und/oder die Einschränkung im täglichen Funktionieren. Diese müssen "klinisch signifikant" sein, was einen Interpretationsspielraum lässt.

Im Auge des Betrachters liegt ebenfalls, ob eine Reaktion - etwa auf den Verlust eines geliebten Menschen - erwartbar und kulturell angemessen ist. Wenn ja, dann liegt per Definition keine Störung vor. Sozial abweichendes Verhalten an sich gilt ebenfalls nicht als psychische Störung. Bei solchen Abgrenzungsversuchen schwingen natürlich überall gesellschaftliche Normen und Werturteile mit.

An dieser Stelle ist auch der Hinweis angebracht, dass die Experten selbst - also vor allem Psychiater und klinische Psychologen - wegen der sozialen Selektion des Bildungssystems überwiegend aus einer wohlhabenden, gut ausgebildeten Bevölkerungsschicht stammen. In Deutschland ist unterhalb eines 1,0er-Abiturs (Medizin) oder 1,3er-Schnitts (Psychologie) ein entsprechendes Studium an den meisten Unis allenfalls nach langer Wartezeit möglich. Dies prägt tendenziell auch die Möglichkeit der Fachleute, sich in die Situation von Menschen aus anderen Schichten hineinzuversetzen.

Der zweite Teil behandelte finanzielle Interessen, sowohl der Experten als auch der Pharmaindustrie. Bei der psychischen Gesundheit geht es um einen Milliardenmarkt. Dabei hat die Mehrheit der Fachleute, die über die amtliche Fassung entscheiden, nachweislich Verbindungen zur Pharmaindustrie. Aber auch unabhängig davon passen sich viele an die Marktlogik an.

Diese wird schlicht von der vorherrschenden Wissenschafts- und Gesundheitspolitik diktiert. Nutzen- und Effizienzmaximierung, Kostenreduzierung und Wettbewerb stehen dabei im Vordergrund. Das dient nicht unbedingt den idealen Zielen von Wissenschaft und Medizin, nämlich Erkenntnis und Gesundheit. Es ist wirklich paradox, dass diejenigen, die es am besten wissen müssten, in einem durch Arbeitsdruck, Verantwortlichkeit, Bürokratie und Personalmangel so ungesunden System funktionieren; jedenfalls bis zum Burn-Out, das Beschäftigte in den Heilberufen besonders betrifft.

Alternative Wissenschaftstheorie

Von der Wissenschaftstheorie dürfen wir mehr Neutralität erwarten, allein schon aus dem Grund, dass sich mit ihr im Vergleich kaum Geld verdienen lässt. Im Gegenteil würde sie an vielen Stellen wohl sogar den Gewinn gefährden: Ein immer wieder kritisches Reflektieren von Annahmen, Definitionen und Kategorien verringert die Produktivität und führt eher zu qualitativen Verbesserungen, die sich schwerer messen lassen, als zu Quantitativen. Aber wenn Sie sich frei entscheiden dürften, wären Sie dann eher für Quantität oder für Qualität?

Auf verschiedenen Gebieten hat sich in der Wissenschaftstheorie eine Unterscheidung in einen (1) essentialistischen, (2) sozialkonstruktivistischen und (3) pragmatischen Ansatz bewährt. Auch auf dem Gebiet der psychischen Störungen dient dies dem Verständnis der Problematik. Deshalb werden diese drei Ansätze im Folgenden ausführlicher erklärt:

Essenzialismus

Der essenzialistische Ansatz dürfte Leserinnen und Lesern mit starken naturwissenschaftlichen Neigungen am ehesten zusagen. Ein Problem ist aber, dass er noch nicht einmal in allen Naturwissenschaften funktioniert. Er geht schlicht davon aus, dass unterschiedliche Dinge sich aufgrund von unterschiedlichen "Essenzen" (von lat. essentia = Wesen von esse = sein) unterscheiden.

Ein Schulbeispiel zur Verdeutlichung ist das Periodensystem der Elemente. Kupferatome unterscheiden sich etwa dadurch von ihren Nachbarn, Nickel und Zink, dass sie - und nur sie! - 29 Protonen haben und nicht 28 oder 30. Das Bedürfnis, die Dinge in der Welt in verschiedene Kategorien zu unterscheiden, besteht bei Naturforschern mindestens seit Aristoteles.

Die Natur macht es den Menschen aber nicht immer so leicht; wahrscheinlich sogar in den allerwenigsten Fällen. Diskussionen zur Unterscheidung der Flora und Fauna durchziehen die Geschichte der Naturwissenschaften und haben so manchen skurrilen Vorschlag hervorgebracht. Ein aktuelles Beispiel ist die Klassifikation von Schneeflocken.

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