NSU-Prozess: "Unterlassene Ermittlungen" schon beim ersten Mord

Grafik: TP

Vor dem Oberlandesgericht München werden die Plädoyers der Nebenklage mit schweren Vorwürfen fortgesetzt

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Mit dem ersten Mord des NSU an dem türkischen Einwanderer Enver Simsek wurden die Plädoyers der Nebenklage nach der Weihnachtspause vor dem OLG in München fortgesetzt. Allerdings wurde die Hauptverhandlung am Nachmittag unterbrochen und auf Mittwoch vertagt. Grund waren Rückenbeschwerden des Angeklagten Ralf Wohlleben.

Aufgerufen ist der Fall Enver Simsek, mit dem die Mordserie am 9. September 2000 begann. Der Blumenhändler wurde an seinem Stand am Stadtrand von Nürnberg in seinem Transporter mit neun Schüssen niedergeschossen, acht trafen ihn. Den Mord verübten zwei Täter mit zwei Tatwaffen, der Ceska-Pistole und einer der Marke Bruni. Die Täter machten ein Foto von dem Sterbenden, das auf dem NSU-Video zu sehen ist.

Enver Simsek hielt noch zwei Tage durch und erlag am 11. September 2000 in einem Nürnberger Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Er wurde 38 Jahre alt und hinterließ seine Frau Adile, damals 36, sowie zwei Kinder im Alter von 13 und 14 Jahren. Adile Simsek und der Sohn Abdul Kerim sind zum Plädoyer ihrer Anwältin Seda Basay-Yildiz mit nach München gekommen. Der Sohn will auch noch das Wort nehmen.

Mit dem Fall Simsek begann die Mord- und Anschlagsserie des NSU, der in einem Zeitraum von acht Jahren zehn Menschen zum Opfer fielen und bei der Dutzende verletzt wurden. Die ersten neun Morde trafen acht türkischstämmige Migranten und einen griechischstämmigen Mann. Alle wurden mit der Ceska-Pistole verübt, die das verbindende Zeichen aller neun Morde darstellt. Aus dem Rahmen fällt der Polizistenmord von Heilbronn, der ebenfalls dem NSU zugerechnet wird. Dabei kamen andere Waffen zum Einsatz. Warum ist unklar.

In verschiedener Weise ist der Fall Simsek paradigmatisch für die Tötungsserie an den Migranten. Die Geschichte der Familie Simsek war unter anderem Gegenstand der ARD-Trilogie über den NSU ("Täter" - "Opfer" - "Ermittler") von 2016.

Direkt zur Vernehmung gebeten

Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz trug noch einmal die ungeheuerlichen und manipulativen Ermittlungen der Kriminalpolizei vor, die im Fall Simsek besonders extrem waren. Das begann am Tattag mit der Überbringung der Nachricht über den Anschlag bei der Familie des Opfers im weit entfernten hessischen Schlüchtern. Die Polizei wollte die Ehefrau zunächst davon abhalten, zu ihrem schwerverletzten Mann nach Nürnberg zu fahren. Sie fuhr doch - und wurde dann in Nürnberg direkt zur Vernehmung gebeten.

"Beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter hat sich die Polizei anders verhalten", sagte Basay-Yildiz, "so wie es richtig ist: Die Nachricht wurde von der Polizei zusammen mit einer Seelsorgerin überbracht. Die Mutter wurde dann erst zehn Tage später und zuhause vernommen."

Die Polizei ermittelte gegen Enver Simseks eigene Familie - vor allem noch, als längst klar war, dass die Familie nichts mit dem Mord zu tun hatte. Ihr Telefon wurde zehn Monate lang überwacht. Die Wohn- und Geschäftsräume wurden durchsucht. Envers Frau Adile musste demütigende Befragungen über sich ergehen lassen, wie die, ob sie regelmäßigen Geschlechtsverkehr gehabt hätten.

Der Gipfel der rechtswidrigen Ermittlungsmethoden waren Falschbehauptungen durch die Polizei gegenüber der Familie. Ihr Mann bzw. Vater sei an Rauschgifthandel beteiligt gewesen, hieß es einmal. Dann wurde Adile Simsek das Bild einer fremden Frau gezeigt und erklärt, das sei die Geliebte ihres Mannes. Enver Simsek hatte keine Geliebte und war nicht in Drogengeschäfte verwickelt.