Deutsche Schützenhilfe für Krieg gegen Kurden?

Karte: Elke Dangeleit

Die politisch fragwürdige Unterstützung der Türkei mit Waffen und Material. Indizien für eine Zusammenarbeit zwischen der Türkei und IS häufen sich. Erdogans Pläne, Afrin anzugreifen

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Das Treffen des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel mit dem türkischen Außenminister Cavusoglu in Goslar brachte Sigmar Gabriel wegen seines Gebarens als "Cayci" (Teejunge) gegenüber dem türkischen Amtskollegen allerlei spitze Kommentare ein. Allerdings müsste es einen weitaus größeren Aufschrei in der deutschen Medienlandschaft darüber geben, dass die in Aussicht gestellten Waffenlieferungen an die Türkei wahrscheinlich im türkischen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei und Nordsyrien zum Einsatz kommen werden.

Am vergangenen Wochenende kündigte der türkische Präsident Erdogan an, dass in der kommenden Woche ein türkischer Angriff erfolge, wenn sich der Kanton Afrin im Nordwesten Syriens nicht umgehend der türkischen Armee ergeben würde. Die amtierende Bundesregierung in Berlin argumentiert derweil mit Erdogan-Argumenten: Die Türkei brauche die Waffen im Kampf gegen den IS.

Nur - wo soll dieser Kampf überhaupt stattfinden? In Nordsyrien ist der IS nicht mehr relevant. Guido Steinberg, Terrorismusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagte im Faktenfinder der Tagesschau:

Dass die Türkei in Zukunft noch den IS bekämpfen könnte, ist einfach falsch.

Guido Steinberg

Die letzten Gebiete der Terrormilizen würden östlich der Stadt Deir ez-Zor, fernab der türkischen Grenze und außerhalb der Reichweite türkischer Bodentruppen liegen, präzisiert Steinberg. Statt den IS zu bekämpfen, bezieht die Türkei die versprengten IS-Kämpfer in ihre Operation Euphrat-Schild in Nordsyrien mit ein. Doch dazu später.

Türkei fürchtet Verlust des Dreiecks Azaz - Jarabulus - Minbic

Mit der Operation Euphrat-Schild marschierte die Türkei 2016 in Nordsyrien ein und besetzt seitdem das Dreieck Azaz - Jarablus - Minbic sowie einen Streifen im Süden des Kantons Afrin. Doch die türkische Vorherrschaft im von der Türkei kontrollierten Gebiet in Nordsyrien wackelt. In Jarabulus begehrt die Bevölkerung gegen die Türkisierungspolitik im Alltag auf. Dort wird in den Schulen mittlerweile Türkisch gelehrt. Öffentliche Gebäude sind mit türkischen Fahnen bestückt. Auf Werbetafeln wird für türkische Produkte geworben - man könnte meinen, man sei in der Türkei.

In Jarabulus leben überwiegend Turkmenen. Diese fordern nun, dass die türkischen Verwaltungsinstitutionen in turkmenische Hände gegeben werden. In Azaz hat sich eine "revolutionäre Gruppe" gegen die türkischen Proxytruppen gebildet, bestehend aus Mitgliedern verschiedener lokaler Organisationen. Innerhalb der Milizen des türkischen "Euphrat-Shields" gibt es ebenfalls zunehmend Konflikte.

Ein Grund dafür ist die Einstellung der finanziellen Unterstützung durch Katar, die über türkische Banken abgewickelt wurde. Die Nachrichtenagentur ANF berichtete, dass Katar rund 400.000 Dollar für Dienstleistungen und militärisches Equipment zur Verfügung gestellt hatte.

Im Kampf um ein Stück vom Kuchen zerlegen sich die islamistischen Milizen nun selbst. Die Türkei versucht deshalb aus ehemaligen Al-Nusra-Mitgliedern (al-Qaida) eine neue Proxytruppe aufzubauen. Zu diesem Zweck sollen am 24. Dezember 2017 nach Agenturangaben rund 100 Mitglieder einer Spezialeinheit in Azaz stationiert worden sein, die in sieben Gruppen in militärischen Taktiken ausgebildet werden. Einer ihrer Aufgaben besteht darin, Tunnel in den Kanton Afrin zu graben.

Angriff auf Afrin nach wie vor erklärtes Ziel der Türkei

Neben der Sicherung des türkischen Korridors im Dreieck Jarablus - Azaz - Minbic, der eine Verbindung zwischen dem westlichsten Kanton Afrin in den östlichen Gebieten der nordsyrischen Föderation verhindern soll, ist der Kanton Afrin selbst Objekt der Begierde der Türkei.

Der türkische Präsident Erdogan kündigte im Parlament in Ankara in der ersten Januarwoche einen Militäreinsatz gegen Afrin und die nordsyrische Föderation an:

Jetzt ist es soweit, das Projekt der separatistischen Terrororganisation, einen Syrien-Terrorkorridor zu errichten, vollkommen zunichte zu machen.

Erdogan

Mit "Terrororganisation" meint Erdogan mitnichten den IS; er zielt auf die nordsyrische Föderation mit ihrer Armee SDF (Syrian Democratic Forces) ab. Guido Steinberg von SWP hält offensive Einsätze von türkischen Panzern in den kurdischen Gebieten Nordsyriens für realistisch.

Am vergangenen Samstag kündigte Erdogan in der türkischen Stadt Elazig einen Angriff auf Afrin und Minbic in dieser Woche an. In seiner Rede machte er unmissverständlich klar, dass es ihm nicht um den Kampf gegen islamistische Milizen geht, sondern um einen Feldzug gegen die demokratische, nordsyrische Föderation.

"Wir werden sie in der Nacht plötzlich überfallen", sagte Erdogan. "Unsere Idlib-Operation wird den westlichen Flügel kappen und in Minbic werden wir die Macht übernehmen, bis dort keine Terroristen (gemeint sind die SDF und der demokratisch gewählte Volksrat, Anm. d. Verf.) mehr sind. Das wird alles innerhalb einer Woche passieren", kündigte Erdogan an.

Salih Muslim, der ehemalige Vorsitzende der nordsyrischen Partei PYD und jetzige TEV-DEM Abgesandte für internationale Angelegenheiten warnte die Türkei vor diesem Schritt. Ein Angriff auf Afrin würde den Krieg in die Türkei tragen. Afrin sei für die Kurden genauso wichtig wie seinerzeit Kobane. Daher würde ein Angriff auf Afrin auch viele Kurden in der Türkei zur Verteidigung des Kantons mobilisieren.

Muslim warf Erdogan vor, die Probleme mit rivalisierenden islamistischen Gruppen in der Provinz Idlib, von der zum Jahreswechsel auch russische Stützpunkte in der Nähe betroffen waren, selbst verursacht zu haben. Islamistische Gruppen griffen nämlich den russischen Luftwaffenstützpunkt Khmeimim nahe Idlib innerhalb weniger Tage zwei Mal an.

Niemand will die Türkei in Syrien haben, die syrische Regierung will dies nicht und auch nicht die internationale Allianz, so Muslim. Bevor die Türkei eingriff, war in der Region einigermaßen Ruhe. Die Astana-Gespräche hatten der Türkei die Aufgabe übertragen, in Idlib für Frieden zu sorgen. Stattdessen sei der Konflikt wegen der Türkei eskaliert, so das Resümee Muslims.

Auch die USA sind anscheinend über das Agieren der Türkei rund um Afrin wenig begeistert. Ein über Twitter verbreitetes Video zeigt den sichtbar genervten US-Diplomaten Brett McGurk, der die Frage stellt, wie es sein kann, dass massenhaft Waffen an die Islamisten von al-Nusra über die Türkei nach Idlib kamen, und diese Region nun dank der Türkei zu einem großem Problem geworden sei.

Nützliches Equipment aus Deutschland

Die von Sigmar Gabriel in Aussicht gestellten Waffenlieferungen beinhalten äußerst nützliches Equipment im Kampf gegen die SDF (Syrian Democratic Forces). Die Nachrüstung türkischer Panzer mit Minenschutzkomponenten würde nämlich die Kampffähigkeit der türkischen Proxytruppen gegen die SDF deutlich erhöhen.

Gabriel nannte dies eine "defensive Schutzausstattung", die die Türkei im gemeinsamen Kampf mit der Bundeswehr benötige, - tatsächlich sind die versprochenen Komponenten für Panzer aber Teil einer Offensivwaffe, die im Südosten der Türkei ganze kurdische Städte in Schutt und Asche geschossen haben. Oder zählen Panzer neuerdings zu den Defensivwaffen? Und wo soll der gemeinsame Kampf mit der Bundeswehr stattfinden?

Im Hamburger Abendblatt warb der türkische Außenminister Cavusoglu in einem Gastkommentar mit der jahrhundertelangen Freundschaft zwischen den beiden Ländern. Es wäre rational, so Cavusoglu, "unsere Beziehungen, wie schon seit 300 Jahren, in Freundschaft und Zusammenarbeit fortzuführen".

Gemäß dieser "Rationalität" der wechselseitigen Interessen handelt die Bundesregierung immer noch so, wie Paul Rohrbach, deutscher Kolonialstratege im Kaiserreiches, es im Jahr 1902 deklarierte: "Einzig und alleine eine politisch und militärisch starke Türkei" könne Deutschland, "die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten", ermöglichen. "Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird."

1915 äußerte sich Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zur Vernichtung und Vertreibung der Armenier: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht." An dieser brachialen Haltung hat sich bis heute anscheinend nicht so viel geändert, wie man es erwarten sollte.

Für die Bundesregierung zählen nicht in erster Linie Menschenrechte, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, sondern es zählt die Stabilität der Türkei als Markt-, Investitions- und Produktionsstandort von rund 6.000 deutschen Unternehmen sowie als militärische Basis für den Nahen Osten, gleichgültig, ob darüber Kurden zugrunde gehen oder nicht.

2017: Waffenexporte im Wert von 25 Millionen Euro

Im Jahr 2017 hat Deutschland Waffenexporte in die Türkei mit einem Gesamtwert von mehr als 25 Millionen Euro genehmigt. Das Wirtschaftsministerium teilte auf eine Anfrage der Grünen mit, dass von Januar bis Ende August 2017 insgesamt 99 Genehmigungen zur Ausfuhr von Rüstungsgütern mit einem Wert von insgesamt 25,36 Millionen Euro erteilt wurden.

Dabei soll es sich um Infrarot-Wärmebildausrüstungen, Marinespezialausrüstung und -zubehör, militärische Luftfahrzeuge/-technik, sowie ABC-Schutzausrüstung, Reizstoffe, um militärische Elektronik, um Feuerleitanlagen und um Handfeuerwaffen handeln.

Im Jahr 2016 seien von Januar bis August 158 Genehmigungen für Waffenlieferungen mit einem Gesamtwert von 69,32 Millionen Euro erteilt worden. In der Debatte um Rüstungsexporte in die Türkei machte Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, deutlich, dass die Türkei für Europa ein zentraler außenpolitischer Akteur in Nah- und Mittelost ist.

Allerdings, so äußerte er gegenüber dem Deutschlandfunk, orientiere sich die Türkei Richtung Russland und China, woran Deutschland kein Interesse haben könne. Denn je enger die Türkei mit Russland kooperiere, desto weniger dürfte sie für die deutsche Mittelostpolitik zur Verfügung stehen, folgert daraus Jörg Kronauer in der Jungen Welt.

Je dichter die Kontakte der Türkei nach China sind, desto schlechter sind die Absatzchancen für die deutsche Exportindustrie. Also müsse man Ankaras Annäherung an Moskau und Beijing bremsen und die eigene Stellung wieder stärken - "um jeden Preis."