Indien: Die Entlarvung des Heilsbringers

Hinter der bröckelnden Fassade des Heilsbringers werden die Konzerne und Smart Citys sichtbar. Foto: Gilbert Kolonko

Vor dreieinhalb Jahren haben viele Inder Narendra Modi gewählt, weil sie seinen Versprechen "Wohlstand für alle" und "Ende mit der Korruption" glauben wollten - doch mittlerweile ist klar, dass Modi ein Mann der Konzerne und ihrer Helfer ist

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Irgendwo im Bundesstaat Bihar steht der Duronto Express in freier Landschaft - wie täglich Tausende andere Züge im ganzen Land. Einige Passagiere vertreiben sich die Zeit im Freien mit einem Plausch. Jeder von ihnen pendelt seit Jahren aus Mangel an Arbeit im Bundesstaat Bengalen zwischen Kolkata und dem 1500 Kilometer entfernten Delhi: "Ja, der Winternebel sorgt wieder für Verspätungen", sagt einer, obwohl um uns herum freie Sicht herrscht.

Als das Thema auf Ministerpräsident Modi kommt, meint ein anderer: "Der versucht ja sein Bestes." Kurz darauf zwinkert mir ein hagerer Älterer zu: "Ich arbeite bei der Bahn. Die Regierung bringt täglich neue Rajdhaani-Züge auf die Strecke (Züge mit klimatisierten Abteilen für die obere Mittelklasse), aber baut kaum neue Gleise. Der Hauptgrund für die vielen Verspätungen ist das völlig überlastete Streckennetz. Besser wird es aber nicht werden: "Täglich entlässt die Regierung erfahrene Mitarbeiter und ersetzt sie durch Billigarbeiter. Das heißt dann Reform."

So wie hier in der Prärie ist auch auf Indiens Straßen das Verhältnis zwischen Menschen, die tiefer blicken, und den Modi-Gläubigen. Und was tut der Hoffnungsträger für seine reisenden Wähler? Er schenkt ihnen einen Hochgeschwindigkeitszug. Die 508 Kilometer lange Strecke zwischen Mumbai und Ahmedabad - laut Modi ein Geschenk aus Japan - wird dem indischen Steuerzahler 18 Milliarden US-Dollar kosten.

Ein andere "Reform" könnte Modi nun ernste Probleme einhandeln: Still und heimlich versucht die Regierung, die indische Staatsbank (SBI) an den Konzern Reliance Industries zu verschenken. Ausgerechnet an die Reliance, die eine Geschichte von Anklagen und Verurteilungen wegen Korruption und Untreue aufweist, die bis 1988 reicht. Dass ihr ultra-neoliberaler Vorstandsvorsitzender, Mukesh Ambani, ein Bekannter des Premierministers ist, wirft einen anderen Blick auf den "Anti-Korruptionskämpfer" Modi.

Laut Regierung ist es eine Banken-Fusion, doch werden 70% des Eigenkapitalanteils von Reliance Industries stammen und somit wird das Sagen zukünftig bei ihnen liegen. Auch das Hauptargument der Regierung, die State Bank mit der "Fusion" fit zu machen, ist fadenscheinig. Mit mehr als 200.000 Mitarbeitern und 225 Millionen Kunden ist die SBI die einzige indische Bank unter den Top 50 der Erde.

Einige profitieren von steigenden Aktienkursen-die Masse bekommt verwässerten Milchtee. Foto: Gilbert Kolonko

"Wir haben in Indien mehr als 23.000 Filialen, davon 15.000 in den ländlichen Gegenden. Reliance Industries hat keinen Zugang zum Land, weil Investitionen dort wenig profitabel sind. Nun haben sie plötzlich unser landesweites Filialnetz - und wir sollen unserer einfachen Kundschaft Lebensversicherungen und Fonds von denen aufschwatzen", sagt ein Filialleiter einer SBI-Bank in Kolkata zu mir.

Auch wer mit den Angestellten am Schalter spricht, spürt vor allem eins: Angst um die Arbeitsstelle. Der normale SBI-Arbeiter ist nicht der junge, dynamische Bankangestellte des 21. Jahrhunderts. Dafür werden knapp 50% der Stellen an ethnische Minderheiten, Stammesangehörige und Menschen mit körperlichen Behinderungen vergeben. SBI steht also eher für langsam, aber sozial und seriös.

Die Liste der Fakten, die Modi entlarven, ist lang: Im Jahr 2014 hatte er die Wahlen hauptsächlich deshalb gewonnen, weil er die politische Konkurrenz im Falle eines aufgeputschten Skandals um die Vergabe von Mobilfunknetzen aggressiv der Korruption bezichtigte. Am 22.12.2017 sprach der Richter O. P. Saini jedoch alle Angeklagten im Verfahren um die Mobilfunknetze frei und begründete das Urteil wie folgt: "Einige Leute inszenierten einen Skandal, indem sie ausgewählte Fakten so kunstvoll miteinander verbanden, dass es schon astrologische Züge annahm".

Jeden Monat strömen eine Millionen junge Inder auf den Arbeitsmarkt. Foto: Gilbert Kolonko

Jetzt steht auch noch der Parteichef von Modis Bharatiya-Janata-Partei, Amith Shah, am Pranger: Dessen Sohn, Jay Amit Shah, steigerte im zweiten Amtsjahr von Ministerpräsident Modi die Einnahmen seiner Firma Temple Enterprise von 800 US-Dollar auf 12,7 Millionen. Hauptgeschäftsaktivität: Börsenspekulationen. Möglich wurde dies durch einen Blankokredit über 2,5 Millionen US-Dollar durch den Schwiegersohn von Parimal Nathwan, Topmanager von Reliance. Nach einem Jahr löste Shah die Firma mit Verlust auf und "investierte" in Windenergie: Dieses Mal kam ein 1,7 Millionen-US-Dollar-Kredit von der IREDA-Bank, die dem Ministerium für Neue und Erneuerbare Energien untersteht.

Die IREDA gehört zu den öffentlichen Banken Indiens, die in den letzten Jahren faule Kredite im Wert von 48 Milliarden US-Dollar angesammelt haben. Obwohl eine Anordnung des obersten Gerichts vorliegt, weigert sich die Regierung, die Schuldner zu nennen. Doch ein Bericht der Schweizer Bank Credit Suisse aus dem Jahr 2015 gibt einen Hinweis: Mit 20 Milliarden Dollar an nicht beglichenen Krediten soll die Reliance-Gruppe der größte Schuldner sein, die Anil Ambani gehört, dem Bruder von Mukesh Ambani (Reliance Industries).

Als die Bharatiya-Janata Partei-mit Modi in der Opposition war, prangerte sie aufs Schärfste die Praxis von Robert Vadra an, Schwiegersohn von Sonja Gandhi (Kongresspartei), dass er vom Real-Estate-Giganten DLF Hotel Holdings Ltd. Blankokredite annahm, um mit Immobilien zu spekulieren …

Wegen der Verspätungen sehen Indiens Bahnhofshallen aus wie bunte Sufifriedhöfe. Foto: Gilbert Kolonko

Die indische Bevölkerung hat genug von der Korruption in ihrem Land - und Narendra Modi war für viele eine Hoffnung. So hat sie klaglos seine Demonetisierung im November 2016 ertragen (vgl. Indien: Es wird nur die kleinen Fische erwischen), die nachweislich kein Schwarzgeld zurückbrachte - aber viel Leid für die einfache Bevölkerung. Acht Monate später folgte eine dilettantisch geplante Steuerreform, die vor allen den kleinen Unternehmern bis heute arge Schwierigkeiten bereitet. Sich nun einzugestehen, dass auch der Heilsbringer nicht besser ist als die korrupte Konkurrenz, fällt schwer.

Modis Wirtschaften bringt Wachstum, aber nicht die versprochenen Arbeitsplätze: Jeden Monat strömt eine Million junger Inder auf den Arbeitsmarkt, doch stehen nur 10.000 neue Stellen pro Monat für sie zur Verfügung. So steigt die Ungleichheit weiter an. Ende der 80er Jahre gehörte dem oberen Prozent Indiens 6 Prozent des Vermögens - mittlerweile sind es 22%.

Die Regierungslinie "Wachstum zuerst" sorgt jedes Jahr für 2,5 Millionen Opfer, die an den Folgen der Luftverschmutzung sterben, da der Energiehunger des Landes zu 60 Prozent durch Kohle gedeckt wird, die für 75 % der Luftverschmutzung verantwortlich ist. Die Städte bieten das Bild eines einzigen lärmenden und stinkenden Dauerstaus. Aber anstatt in die Infrastruktur für die Allgemeinheit zu investieren, wachsen massenweise sogenannte Smart Citys und Shopping-Center für die etwa 190 Millionen starke obere Mittelklasse.

Die restliche Milliarde Inder bekommt von Modi hinduistische Identitätspolitik serviert, was potenziell zu Lasten der Muslime geht. Aber auch der Anteil der Wirtschaftsgläubigen in der westlichen Welt, die Modi für seine "liberale" Wirtschaftspolitik loben, merkt nicht, dass der Modernisierer zu Hause das Mittelalter predigt. So rät Modis Bharatiya-Janata-Partei, dass es ein Mittel gegen Vergewaltigungen sei, wenn Frauen abends nicht alleine aus dem Haus gehen und sich bedeckt kleiden würden.

Auch in Indien ist ein Handy mit Internetzugang die Regel - gegen abstruse Fantasien hilft nur Aufklärung. Aber davon ist Indien unter Modi noch weit entfernt: Im Pressefreiheitindex liegt das Land mittlerweile auf Platz 136, noch hinter Afghanistan. Morde und Gewalttaten an Journalisten, die die Regierung kritisieren, nehmen ebenfalls zu. Am 12. Januar diesen Jahres prangerten vier erfahrene Richter des obersten Gerichts auf einer Pressekonferenz an, dass ihr Chef, Dipak Misra, vorwiegend Fälle verhandeln lasse, die der Modi-Regierung genehm seien. Die vier begründeten ihre einmalige Aktion in der Geschichte des Landes mit der ernsten Sorge um die Demokratie Indiens.

Zwei Stunden vor dem Ende der Zugfahrt nach Kolkata, bekommt mein Nachbar auf der oberen Liege plötzlich einen epileptischen Anfall. Es folgt ein instinktiver Griff ans engmaschige Gitter, das uns trennt, dann senkt der Mitvierziger plötzlich den Kopf, weicht dabei unnatürlich geschickt dem Deckenventilator aus und knallt zwei Meter auf den Boden. Sie werden jetzt sicher nicht erwarten, dass ein Schaffner kommt - das Zugpersonal ist seit der Bahnreform schon mit den normalen Aufgaben völlig überfordert - oder dass im Bahnhof in Kolkata ein Arzt wartet, als der Zug mit 18 Stunden Verspätung sein Ziel erreicht.

Dafür sagt das Forschungsinstitut Economist Intelligence voraus, dass das indische Bruttoinlandprodukt 2018 auf deutlich über 7 Prozent steigen wird. Dazu schwärmt der deutsche Aktionär von 27% Kursanstieg des indischen Sensex.