Deutsche, verschwundene Juden und Europa

The Spy Who Came in from the Cold

John le Carré und das Vermächtnis der Spione, Teil 2

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Teil1: Eine literarische (und filmische) Reise weg von der Demenz

Was haben nackte Brüste, der Holocaust und die amerikanische Filmzensur mit John le Carré zu tun, warum ist sein 2017 erschienener Roman A Legacy of Spies eine Reaktion darauf, und wie kommt die Europäische Union mit ins Spiel? Antworten auf diese und andere Fragen erhält der geneigte User im zweiten Teil dieses Textes über das Vermächtnis des Circus und seiner Spione.

Obszönes Material

1964 schrieb Nico Jacobellis, ein Einwanderer aus Italien, amerikanische Justizgeschichte. Jacobellis leitete ein Kino, das Heights Art Theatre in Cleveland Heights, Ohio. 1959 zeigte er dort Les amants von Louis Malle, in dem Jeanne Moreau einen Orgasmus hat und Mann und Kind verlässt, um mit einem Liebhaber durchzubrennen. Zur zweiten Vorstellung erschien die Polizei, konfiszierte die Filmkopie und nahm Jacobellis auch gleich mit. Anschließend wurde er wegen Zurschaustellung "obszönen Materials" zu einer Geldstrafe von 2500 Dollar verurteilt. Das wollte Jacobellis nicht so hinnehmen.

Er zog bis vor den Obersten Gerichtshof der USA, der 1964 zu seinen Gunsten urteilte. Die Mehrheit der Richter befand, dass das im ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung auch für Filme zu gelten habe, solange sie nicht "völlig ohne gesellschaftliche Bedeutung" seien, und dass es landesweiter Standards bedürfe, um dieses Recht einzuschränken. Was obszön sei könne ein Kaff in Ohio nicht allein bestimmen. Richter Potter Stewart schrieb in seine Urteilsbegründung den berühmten Satz, dass er Pornographie erkenne, wenn er sie sehe. Les amants gehöre nicht dazu.

Das Urteil des Supreme Court ermutigte amerikanische Produzenten nicht dazu, den Frauen einen Orgasmus zuzugestehen, wohl aber dazu, ein wenig (weibliche) Nacktheit zu wagen. Für Of Human Bondage, Splendor in the Grass, The Americanization of Emily, The Carpetbeggars, The Cincinnati Kid und gerüchteweise auch für The Sandpipers mit Elizabeth Taylor wurden Nacktszenen gedreht, manchmal in Previews gezeigt und vor dem Kinostart herausgeschnitten, weil die Selbstzensureinrichtung der amerikanischen Filmindustrie, die von Geoffrey Shurlock geleitete Production Code Administration (PCA), sonst ihr Freigabe-Siegel verweigert hätte.

Monsignore Thomas Little, Anführer der Legion of Decency, brüstete sich 1965 damit, dass in den vergangenen zwei Jahren 34 Filme mit Nacktszenen, davon 20 große amerikanische Produktionen, in den Verleih gekommen wären, wenn die Produzenten nicht realisiert hätten, dass die Legion Filme mit nackter Haut unerbittlich "verdammen" (condemn) würde. Die "Legion der Anständigkeit" war eine schlagkräftige, sehr einflussreiche Lobby-Gruppe reaktionärer Katholiken. Um im Bild zu bleiben: Die Produzenten fürchteten sie wie der Teufel das Weihwasser.

Im Nachhinein wirkt Monsignore Littles selbstgefälliger Bericht wie das Pfeifen im Walde. Das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten. Während die organisierten Katholiken standhaft blieben fragten sich protestantische Geistliche, ob das vom Production Code erzwungene Spiel mit aufreizenden Andeutungen und halbem Ausgezogensein nicht viel anstößiger sei als die schlichte Nacktheit, ob der Code also nicht genau jener Unzucht Vorschub leiste, die er bekämpfen wollte. Für Shurlock war das eine schlechte Nachricht, weil es immer schwieriger wurde, den Code und seine Regeln durchzusetzen, wenn selbst die Front der christlichen Kirchen bröckelte.

Filmkunst mit Brüsten

Sidney Lumet hatte mehr die Filmkunst im Blick als die Erregungszustände des Publikums, als er an Originalschauplätzen in Spanish Harlem The Pawnbroker drehte. Die großen Studios hatten lieber die Finger von dem Stoff gelassen. Darum entstand der Film als unabhängige Produktion und mit wenig Geld. In der Hoffnung auf eine spätere Gewinnbeteiligung verzichteten die Mitwirkenden auf einen Großteil ihrer üblichen Gage. Rod Steiger spielt einen Pfandleiher und Holocaust-Überlebenden, der sich in Flashbacks an das Vernichtungslager erinnert. Seine Frau und seine Kinder wurden ermordet.

Ely Landau, der jüdische Produzent, war ein Kämpfer mit Prinzipien und entschlossen, den Pfandleiher so auf die Leinwand zu bringen, wie es die Filmemacher für richtig hielten. Einmal kommt eine schwarze Prostituierte als Kundin in den Laden und lässt ihr Oberteil fallen, weil sie sich davon einen besseren Preis für die Ware erhofft, die sie versetzen will. Dem Pfandleiher schießen Erinnerungsfetzen an seine Frau durch den Kopf, die sich vor SS-Schergen nackt ausziehen musste und vergewaltigt wurde.

The Pawnbroker

Nackte Brüste waren laut Code verboten. Der Verleih, die Allied Artists, reichte trotzdem die ungekürzte Fassung zur Begutachtung ein. Shurlock mochte den Film, wollte aber weder gegen die eigenen Regeln verstoßen noch sich mit mächtigen Lobby-Gruppen wie der Legion of Decency anlegen. Am letzten Tag des Jahres 1964 verweigerte er die Freigabe. Dann begann, was die Filmzensur betrifft, ein neues Zeitalter. Die Allied Artists legte Beschwerde ein. Im März 1965 traf sich das zuständige Gremium, das Production Code Review Board, zu einer denkwürdigen Sitzung.

Nach einer mehr als vierstündigen Diskussion wurde dem Pfandleiher die Freigabe in Aussicht gestellt, die Nacktszenen inklusive. Seit der Einführung des Production Code vor über 30 Jahren hatte es so etwas noch nie gegeben. Damit Shurlock sein Gesicht wahren konnte wurde den Produzenten aufgetragen, die von ihm inkriminierten Szenen nicht herauszuschneiden, aber doch zu kürzen. Ely Landau teilte Shurlock mit, dass er alles versucht habe, jedoch nur einige wenige Einzelbilder entfernen könne, ohne den künstlerischen Gehalt zu beschädigen. Ein paar Frames weniger war auch gekürzt. The Pawnbroker wurde mit nackten Busen freigegeben.

Sogar die Legion der Anständigkeit war verunsichert. Die Katholiken billigten dem Pfandleiher ein humanistisches Anliegen zu, rangen lange Zeit mit sich und brauchten nach dem Kinostart in New York und Los Angeles mehrere Wochen, um dem Film ihr C für Condemnation (Verdammung) zuzuteilen. Gerechtfertigt wurde das mit grundsätzlichen Überlegungen. Nicht weil The Pawnbroker an sich obszön sei werde er verdammt, hieß es, sondern weil die Legion Nacktheit auf der Leinwand generell ablehne, zum Wohle der Allgemeinheit.

Außerdem witterten Monsignore Little und seine Truppe eine Verschwörung der Produzenten zur Einschleusung von Nacktheit in den amerikanischen Film, versteckt unter dem Mäntelchen der Kunst und mit The Pawnbroker als Trojanischem Pferd. Das ließ auch Raum für etwas Antisemitismus. Das Klischee vom unmoralischen jüdischen Filmproduzenten, der die reinen Seelen unschuldiger Amerikaner beschmutzt, war von jeher eines der liebsten Feindbilder der Zensoren gewesen und so alt wie Hollywood, wo sich die Hausbesitzer anfangs weigerten, an Juden und Filmvolk zu vermieten.

Die Freigabeentscheidung der PCA hatte ebenfalls eine unschöne Komponente. Der Verdacht liegt nahe, dass es den Verantwortlichen leichter fiel, die nackten Brüste zu genehmigen, weil es der Busen einer Schwarzen war und Schwarze im US-Film gern mit animalischer Sittenlosigkeit assoziiert wurden. Den Tabubruch milderte das in ihren Augen ab. Das war Rassismus. Nach außen wurde die Entscheidung so kommuniziert, dass The Pawnbroker ein einzigartiger Film und eine einmalige Ausnahme von der Regel deshalb gerechtfertigt sei. Dabei werde es bleiben. Das war ein Irrtum oder eine reine Schutzbehauptung.

Die Kritiker der Entscheidung warnten vor Folgen, die unkontrollierbar sein würden. Auch das war falsch. Die Folgen waren durchaus abzusehen, weil die Zeit reif dafür war und weder Geoffrey Shurlock noch Monsignore Little die sexuelle Revolution der 1960er auf Dauer vom amerikanischen Film fernhalten und diesen zur ewigen Pubertät verdammen konnten. Die Ausnahmen von der Regel häuften sich. Ein paar Jahre nach der Freigabe von The Pawnbroker war der Production Code durch eine Einteilung nach Altersgruppen ersetzt.

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