Der türkische Angriffskrieg gegen die nordsyrische Region Afrin

Diese kurdische Flüchtlingsfamilie ist nach Nordsyrien zurückgekehrt, um ihr Zuhause wiederaufzubauen. Bild: Kamal Sido

Afrin scheint für die Türkei eine strategische Bedeutung zu haben. Darum will man die Kurden aus dieser Region für immer vertreiben

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Seit dem 20. Januar 2018 greifen die türkische Armee und die von der türkischen Regierung unterstützen Islamisten die mehrheitlich von Kurden bewohnte Enklave Afrin im äußersten Nordwesten Syriens an. Erdogan will in dem Nachbarstaat kein autonomes Kurdengebiet dulden, in dem kulturelle und religiöse Vielfalt gelebt wird. Aufgrund dessen blockiert er bisher jegliche humanitäre Hilfe. Bereits zuvor verlegte er Panzerverbände an die Grenze der Region Afrin und lässt sie seit dem 14. Januar 2018 Dörfer mit Artillerie beschießen. Nun greift er mit Kampfflugzeugen, schwerer Artillerie und Panzern an.

Dieser Militäreinsatz richtet sich nicht gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS), wie die türkische Regierung es behauptet, sondern gegen die YPG, die eine der wichtigsten Verbündeten gegen die Barbarei in Syrien darstellt. Die kurdische Autonomieregion Rojava/Nordsyrien wird trotz vereinzelter Menschenrechtsverletzungen weltweit als Hoffnung für die Möglichkeit einer demokratischen und sozialen Gesellschaft in dieser Kriegsregion gesehen.

Noch vor Beginn des großangelegten türkischen Angriffs richtete die alawitische Kurdin Hevi Mustafa, Präsidentin des Kantons Afrin, über die GfbV einen Appell an die internationale Staatengemeinschaft und bat um Hilfe. "Seit sechs Jahren sind wir in Afrin damit beschäftigt, eine Verwaltung aufzubauen, die ein friedliches Miteinander von verschiedenen Völkern sichern soll. All das wird heute von der türkischen Regierung bedroht. Bitte helft uns, diese Angriffe zu stoppen!", sagte Frau Mustafa in ihrer Videobotschaft".

Die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft

Als UN-Mitglied müsste die Türkei auf jeglichen Angriffskrieg verzichten. Afrin gehört weder dem türkischen Staatsterritorium an, noch ist von Afrin aus eine reale Bedrohung für die Türkei ausgegangen. Der Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen verbietet die Anwendung von Gewalt und das Drohen damit. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution 3314 den Angriffskrieg definiert. Auch das Rom-Statut, Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, verbietet Angriffskriege.

Die UN sollte umgehend reagieren, da ein Mitglied die UN-Charta verletzt und einen Angriffskrieg gegen eine de facto autonome Region (Afrin) auf dem Staatsgebiet eines anderen unabhängigen Staates (Syrien) führt. Der syrische Staat kann oder will die autonome Region Afrin nicht gegen den türkischen Angriffskrieg schützen. Der syrische Staat hat auch diesem Angriffskrieg nicht zugestimmt, sondern scharf verurteilt und ihn explizit als "Angriffskrieg" bezeichnet.

Demzufolge stellt der türkische Angriff auf Afrin einen Bruch des Völkerrechts dar: Die Türkei hat weder eine Zustimmung der syrischen Regierung noch eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeholt. Die Türkei kann sich auch nicht wie von ihr behauptet auf das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen berufen, da kein bewaffneter Angriff im Sinne dieser Vorschrift vorliegt. Die UN und andere internationale Organisationen müssen daher alles dafür tun, dass der türkische Angriffskrieg gegen Afrin und Nordsyrien sofort beendet wird. Dieser Krieg muss verurteilt werden und alle Seiten müssen aufgefordert werden, sich zu einer friedlichen, international getragenen Lösung der Kurdenfrage in Syrien unter Einbeziehung der Vertreter der dortigen Autonomen Selbstverwaltung sowie zur Wahrung der Menschenrechte bekennen.

Das Leiden der Zivilbevölkerung

Dieser Angriffskrieg verursacht schon jetzt eine humanitäre Katastrophe, zehntausende Menschen sind auf der Flucht und suchen Schutz vor den türkischen Luftangriffen in Berghöhlen und Olivenhainen. Die Infrastruktur und die Treibstofflager werden gezielt unter Beschuss genommen. Auch der einzige Stausee Maydanke, der mindestens 300.000 Menschen mit Trinkwasser versorgt, ist in Gefahr, weil Bomben in unmittelbarer Nähe einschlagen.

Nach offiziellen kurdischen Angaben sollen 134 Zivilisten verletzt und 59 getötet worden sein. Das türkische Militär gibt die Tötung von insgesamt 343 "Terroristen" an. Die türkische Regierung behauptet auch, dass sie bei ihrem "Militäreinsatz" Rücksicht auf zivile Opfer nimmt. Deshalb gehe die türkische Armee "mit größter Vorsicht vor". Angesichts des Einsatzes von Artillerie, Raketenwerfern und Kampfflugzeugen ist diese Behauptung der türkischen Regierung nicht glaubwürdig. Allein am Sonntagabend (21.01.) um 22 Uhr, hatten 72 türkische Kampfflugzeuge 108 Ziele in Afrin angegriffen. Unter anderem waren Ortschaften wie Sherawa, Bilbile, Raco und Shera Ziel der türkischen Angriffe. (Stand 27/01/2018)