Worum sich die neue Regierung "kümmern" will - und worum nicht

Reaktionen auf Inhalte des Koalitionsvertrags

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Ab dem 20. Februar sollen Mitglieder der SPD, die bis zum 6. Februar aufgenommen wurden, über den Koalitionsvertrag ihrer Partei mit CDU und CSU abstimmen. Das Ergebnis der Urabstimmung soll am 4. März verkündet werden - dem Tag, an dem auch feststehen wird, ob die Schweiz das beitragsfinanzierte öffentlich-rechtliche Fernsehen abschafft und ob ein deutscher Außenminister in Italien mit Silvio Berlusconi als Regierungsparteichef reden muss.

Davor müssen sie sich informieren, was in diesem Koalitionsvertrag überhaupt steht. Dazu können sie das 179 Seiten lange Dokument entweder selbst durchlesen, oder sich auf die Auskünfte von Medienvertretern stützen, die es für sie "einordnen". Im ZDF machte Elmar Theveßen das wie folgt:

Da steht auf knapp 180 Seiten mit vielen Worten in Wirklichkeit ein Satz: Wir kümmern uns - endlich. Denn diese Koalition verspricht, was jeder Bürger von seiner Regierung zu Recht erwartet: Dass sie dafür sorgt, dass Schulen Personal und neueste Technik haben, dass es Familien und Kinder besser geht, dass man sich in Deutschland sicher fühlen kann, dass es keinen Kontrollverlust mehr gibt, dass Arbeit, Gesundheit, Steuern, Wohnen, Rente gerechter werden, dass Umwelt mehr geschützt wird, dass Europa zu der Einigkeit zurückfindet, die jahrzehntelang Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantierte, und dass Hass und Menschenverachtung in Deutschland keine Chance haben.

(Elmar Theveßen im ZDF)

Außerhalb des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sieht man das Einigungspapier etwas kritischer. Vor allem in Sozialen Medien, wo Frank Covfefe die von der Welt aufgestellte Behauptung, die Sozialdemokraten hätten "abgesahnt", mit dem Satz konterte: "Stimmt - Aber ihre Wähler nicht". Einen weiteren dort oft geäußerten Eindruck brachte Oliver Gorus auf den Punkt: "Der Koalitionsvertrag beginnt mit den Worten 'Die Europäische Union ...' - mehr muss ich eigentlich gar nicht wissen ...".

Krankenversicherungs-Mindestbeiträge

Auch der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) "bewertet das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD überwiegend kritisch", wobei er unter anderem auf die Wiederaufnahme von Ursula von der Leyens altem Plan verweist, Selbständige zum Einzahlen in die Rentenkasse zu zwingen (vgl. Erweiterung der Altersarmut ins Berufsleben). "Viel", so der VGSD, hängt hier jedoch "von der genauen Ausgestaltung ab". Die vereinbarte Absenkung der Krankenversicherungs-Mindestbeiträge geht dem Verband in jedem Fall "nicht weit genug":

Bisher müssen (Teilzeit-)Selbstständige - auch wenn sie tatsächlich viel weniger verdienen - Beiträge auf mindestens 2.283,75 Euro entrichten und damit bis zu 43 Prozent ihres Einkommens nur für die Kranken- und Pflegeversicherung aufwenden. Mit der Absenkung auf nur 850 bzw. 1.522,50 (zuletzt noch strittig) Euro bleibt die GroKo […] auf halbem Weg stehen. Aus Sicht des VGSD zwingend nötig ist eine Absenkung auf 450 Euro wie bei Teilzeit-Angestellten - und damit endlich einkommensabhängige Beiträge auch für Selbstständige in Teilzeit.

(VGSD)

Verbot verschreibungspflichtiger Medikamente im Internethandel

Auf eine andere Veränderung einer Einkommensgrenze im Pflegebereich macht die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml aufmerksam: Um "die Familien von Pflegebedürftigen vor finanzieller Überlastung zu schützen" wird auf die Einkünfte der "Kinder pflegebedürftiger Eltern künftig erst ab einem Einkommen von 100.000 Euro im Jahr zurückgegriffen". Potenziell weniger freuen dürfte diese und ihre Eltern, dass sie verschreibungspflichtige Medikamente nicht mehr bei Internetversendern kaufen dürfen. Das "soll verhindern", dass "viele unserer Apotheken ihre wirtschaftliche Grundlage verlieren", wie die CSU-Politikerin offen einräumt. Bezahlen müssen es die Versicherten mit höheren Kosten (vgl. Entscheidung gegen Verantwortungslosigkeit).

Die drohen auch durch eine Angleichung der Arzthonorare für Kassenpatienten an die von Privatpatienten. Das wird allerdings erst von einer Kommission geprüft werden, die dazu einen Vorschlang ausarbeiten soll. Ob der dann umgesetzt wird, lässt der Koalitionsvertrag explizit offen. Als Verbesserung könnte sich dagegen die geplante Vergütung für telemedizinische Leistungen erweisen, die potenziell lange Fahrtwege und Wartezeiten sowie Ansteckungsrisiken verringern.

EU-weites Leistungsschutzrecht

Bezüglich anderer Vereinbarungen zur Digitalisierung im Koalitionsvertrag zeigt sich der Bundesverband Deutsche Startups enttäuscht: Er kritisiert unter anderem, dass die Kompetenzen nun doch nicht in einem Digitalisierungsministerium gebündelt werden. "Wenn es", so der Verband, "keine eindeutige Kompetenzen gibt - weder als eigenes Ressort noch in Form eines Staatsministers im Bundeskanzleramt - können auch keine eindeutigen und tiefgreifenden Entscheidungen getroffen werden" (vgl. Schwarz-rote Digitalpolitik: "Der große Wurf ist nicht erkennbar"). Eher behindern als fördern könnten Fortschritte durch Digitalisierung auch ein geplantes neues Leistungsschutzrecht auf EU-Ebene, für das sich die neue Bundesregierung einsetzen will, und eine Abschaffung der Haftungsprivilegien für Provider, die geprüft werden soll (vgl. Urheberrecht: Große Koalition will keine Upload-Filter, aber ein EU-Leistungsschutzrecht).

Bei der Beseitigung der Wohnungsnot könnte ein bislang noch wenig beachtetes Vorhaben im Koalitionsvertrag mehr nützen als das von der SPD als Erfolg herausgekehrte Baukindergeld, das nach Ansicht von Experten vor allem Mitnahmeeffekte auslöst: Weil sich Bauunternehmer in den letzten Jahrzehnten immer stärker mit eigens gegründeten juristischen Personen vor der eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen Haftung für Pfusch schützten, zögerten immer mehr potenzielle Bauherrn, sich diese immer größer erscheinenden Risiken selbst aufzubürden. Ein "Recht auf Rückabwicklung des Vertrags im Insolvenzfall", das jetzt eingeführt werden soll, würde Bauherren-Schutzbund-Geschäftsführer Florian Becker zufolge eine "nicht selten zu existenzbedrohende" Schutzlücke im Bauträgervertragsrecht schließen und "Erwerbern deutlich mehr Sicherheiten geben".