"Mit der Entfesselung der Finanzmärkte vor 50 Jahren begann der lange Weg in die gegenwärtige Krise"

Ein Gespräch mit dem Ökonomen Stephan Schulmeister über die Folgen von "Finanzalchimie" und "Marktreligiösität" und darüber, warum die aktuelle Wirtschaftspolitik einfach nicht funktionieren kann

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In seiner Einschätzung des aktuellen Börsengeschehens skizziert der renommierte österreichische Ökonom Stephan Schulmeister die historische Genese der heutigen Lage. Schulmeister, der sich dezidiert nicht als "linker" Denker versteht, ist ein energischer Gegner der neoliberalen Wirtschaftsordnung. Die Grundmuster dieser Ordnung sind viel tiefer im Denken von Politikern, Markteilnehmern und der Bevölkerung verankert, als dies gemeinhin angenommen wird. Der Kampf gegen diese Grundmuster dürfte ein langer und schwieriger werden.

Was ist da vor ein paar Tagen passiert, als innerhalb von Stunden 1,3 Billionen Dollar "weg waren" und dann waren sie plötzlich wieder "da"? Zuerst an der Wallstreet, dann zogen die Börsen in Asien und Europa nach. Haben Sie eine Erklärung?

Stephan Schulmeister: Das kann man natürlich nicht erklären! Das wäre das, meiner Ansicht nach, lächerliche Geschäft von Analysten, die versuchen, im Nachhinein Geschichten zu Preisbewegungen zu konstruieren. Die sind aber das Ergebnis der Erwartungen von zumindest zehntausend professionellen Tradern und Millionen von Amateuren. Die Prozesse der Erwartungsbildung der Markteilnehmer kann man unmöglich kennen, deswegen sind das immer nur im Nachhinein konstruierte Geschichten.

Was auf den Märkten erkennbar ist, sind längerfristige Muster, wie etwa "Bullenmärkte" oder "Bärenmärkte". Aufgrund dessen lässt sich beispielsweise eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür annehmen, dass es mit den Kursen längerfristig wieder runtergeht, als dass es weiter raufgeht.

Sie glauben also nicht, dass die Verluste im Zusammenhang stehen mit der Nullzinspolitik, die vielleicht eine verzweifelte Krisenmaßnahme war?

Stephan Schulmeister: Eine Kursbewegung an einem einzigen Tag erklären vor dem Hintergrund einer Zinspolitik die schon seit Jahren betrieben wird? Da sehe ich den direkten Zusammenhang nicht. Natürlich hat die Entwicklung der Zinssätze laut den Geschichten der Analysten eine Rolle gespielt, weil eben die Konjunkturlage sehr gut ist und weil man davon ausgeht, dass in den USA die Inflation wahrscheinlich wieder anziehen wird und aufgrund dessen die Zinsen steigen werden. Aber ob das tatsächlich der wirksame Kausalzusammenhang ist, das kann man letztlich nicht wissen.

Eine viel größere Bedeutung spielen die computergesteuerten Spekulationssysteme. Das sind Black Boxes, deren Grundlogik man kennt, aber deren konkrete Signalsetzung man nicht rekonstruieren kann.

Vieles war ja auch außerbörslicher Handel, bei dem in der Nacht Verträge gemacht wurden und am Morgen wurden die Kurse dann so stark korrigiert.

Stephan Schulmeister: Das ist auch ganz normal geworden, weil außerbörslich mit Derivaten weiter gewettet wird. Wir haben längst einen Handel 24 Stunden rund um die Uhr. Wenn die eigentlichen Börsen, die Spot- oder Kassamärkte, geschlossen sind, kann man eben mit Derivaten weiter spekulieren. Dann ist klar, wenn vor Eröffnung einer Börse sich ein Stau gebildet hat und mehr "short gehen wollen", das heißt verkaufen wollen, dann entlädt sich der eben in den ersten Sekunden.

Max Weber meinte Ende des 19.Jahrhunderts Waren und Dienstleistungen lassen sich nicht nach Plan verteilen, weil niemand die genügende Übersicht haben kann. Wenn aber Spekulanten an der Börse dem besten Preis folgen, dann ist dies ziemlich effizient. Heute allerdings wird diese Funktion effizienter Distribution durch Finanzmarktprodukte überlagert.

Stephan Schulmeister: Heute ist gut gesagt, seit dreißig Jahren ist dies so. Die Börse hatte ursprünglich die Funktion, Kapital zu lukrieren für Unternehmen, die damit real investieren wollen. Die Börse ist neben der Kredit- und Anleihenfinanzierung eine Form - in diesem Fall - der Eigenkapitalfinanzierung.

Aber seit dreißig Jahren finanzieren die Börsen nicht mehr die Aktiengesellschaften, sondern umgekehrt die Aktienrückkäufe sind im Volumen wesentlich höher als die Neuemissionen. Das heißt es fließt permanent Geld aus dem Corporate Business Sector hinaus. Damit musste die Börse degenerieren zu einem Kasino, wo mit knappen Jetons, also Spielmünzen, Wettspiele veranstaltet werden.

Einzelne Akteure können im Prinzip immer gewinnen, aber nur, weil andere immer verlieren

Sie nannten dies einmal Alchimie, bei der wird Obskures durch noch Obskureres erklärt und der geheime Sinn ist, dass es niemand versteht.

Stephan Schulmeister: In dem Wort Alchimie steckt viel drin. Ich schätze diesen Ausdruck sehr. Ich habe ihn übernommen aus dem ersten Buch George Soros, das tatsächlich sehr instruktiv ist - im Gegensatz zu seinen späteren Werken. Dieses Buch aus dem Jahr 1986 hieß "Die Alchimie der Finanzen". In dem Begriff steckt erstens, was Sie sagen, dass es keiner versteht, und zweitens, dass es eine Unmöglichkeit ist. Die Alchimisten wollten in irgendeiner Weise aus Quecksilber Gold machen, das kann aber nicht funktionieren. Allerdings, und das ist der wichtige Unterschied zu den Goldalchimisten, für einzelne Finanzalchimisten kann dies hervorragend funktionieren. Nur nicht für das System.

Allerdings doch nur eine Zeit lang, wie ein Ponzi Scheme.

Stephan Schulmeister: Nein, nicht unbedingt. Schauen Sie sich die Gewinne von Goldman Sachs aus dem Trading über zwanzig Jahre an, die sind immer gigantisch. Wenn einzelne Akteure sich als bessere Spekulanten erweisen, dann können die im Prinzip immer gewinnen. Aber eben nur deshalb, weil es andere gibt, die immer verlieren. Es muss natürlich eine Gruppe sein, die immer verliert. Denn ein Einzelner, der sich die Finger verbrannt hat, steigt aus oder muss aussteigen. An der Börse kommt aber immer frisches Blut nach.

Sind nicht irgendwann die Ressourcen aufgebraucht? Kann ein solches System über Jahrhunderte funktionieren?

Stephan Schulmeister: Nein, natürlich nicht. Deswegen nicht, weil mit den sogenannten Bullen- und Bärenmärkten einhergehenden Vermögensschwankungen schwere Krisen der Realwirtschaft verursachen.

Denken Sie nur an 1929 und die Folgen des damaligen Börsenkrachs. Meine Interpretation des großen Wirtschaftseinbruchs 2009 ist völlig anders als die herrschende Sicht, weil ich meine, es war einfach die Gleichzeitigkeit von drei Bärenmärkten und das passiert in der Geschichte nur sehr selten.

Es sind 2009 gleichzeitig Immobilienpreise, Aktienkurse und Rohstoffpreise gefallen. Das ist das letzte Mal zuvor eben 1929 passiert. Eine solche Vermögensentwertung auf breiter Front muss Kettenreaktionen auslösen in der Realwirtschaft. Allein deshalb, weil in vielen Ländern die Pensions- und Altersvorsorge auf Kapitaldeckung umgestellt wurde. Wenn Aktien-, Anleihenkurse, etc. in den Keller gehen, dann werden die Pensionskapitalien entwertet, die Leute müssten länger arbeiten oder würden weniger Pension bekommen, weshalb sie mehr sparen und so weiter.

Sie sprachen einmal von einer "Marktreligiösität" in der Politik, bei der wider besseres Wissen, auf den Markt vertraut wird. Beispielsweise bei der privaten Altersvorsorge. Wie konnte diese "Marktreligiösität" so gut im öffentlichen Bewusstsein verankert werden?

Stephan Schulmeister: Das ist ein Prozess der in den 1940er Jahren begonnen hat und sich über mehr als siebzig Jahre erstreckt hat. In wenigen Worten lässt sich dies schwer zusammenfassen. Es haben eben damals Ökonomen unter der Führung des österreichischen Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek sich zusammengefunden in einer für sie hoffnungslosen Situation, weil ja damals die Keynesianische Theorie dominiert hat.

Man hat damals das strategische Ziel offen propagiert: Wir werden den Keynesianismus von den Universitäten vertreiben! Aber dies könne durchaus zwei Generationen dauern. Das war zumindest die Prognose des Herrn Hayek. Es hat dann aber nur eine Generation gedauert. Was bewundernswert ist, ist, dass diese Gruppe mit so unglaublicher Ausdauer an diesem Ziel gearbeitet hat und Anfang der 1970er Jahre dann auch erfolgreich war, indem die Finanzmärkte entfesselt wurden, die zuvor noch unter dem Einfluss der Keynesianischen Theorie strikt reguliert geblieben waren.

Mit dieser Entfesselung der Finanzmärkte beginnt der lange Weg in die gegenwärtige Krise. Die Krise der letzten zehn Jahre hat nicht erst mit der Sparpolitik der 1990er Jahre begonnen. Es begann mit der Aufgabe der festen Wechselkurse in den 1970ern, die hatte damals sofort eine Dollarabwertung zur Folge, das hat wiederum einen Ölpreisschock verursacht, weil Erdöl in Dollar notiert und dann begann diese Sequenz von krisenhaften Entwicklungen mit einem vorläufigen Höhepunkt in der Finanzkrise 2008.

Eine Strangulierungskrise haben Sie das einmal genannt.

Stephan Schulmeister: Genau. Die Medien konzentrieren sich leider immer auf die spektakulären Ereignisse. Während für mich die systemischen, unmerklichen Prozesse viel spannender sind. Ich möchte es in einem Bild erklären: Ein Staudamm bricht und alle werden berichten, was dies für eine Katastrophe ist. Aber die eigentliche Ursache ist natürlich der Prozess des Aufstauens davor. Der ist ganz unspektakulär, hat aber erst das Potenzial aufgebaut für das große Ereignis. Ähnlich ist es bei Aktiencrashs. Das Potenzial für den Crash baut sich über viele Jahre auf. Im aktuellen und konkreten Fall eben über 9 Jahre seit dem Jahre 2009.