Das Gespenst des dritten Geschlechts

Die Istanbuler Konvention empört und verstört viele Bulgaren, die "Gender-Ideologie" wird als Gefahr für bulgarische Werte gesehen

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Seit Sigmund Freud kennen wir drei große Kränkungen, die der historische Fortschritt dem naiven Narzissmus des Menschen zugefügt hat. Die kosmologische Kränkung durch Kopernikus' Entdeckung, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls ist. Die biologische Kränkung durch Darwins Theorie der Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen und die psychologische durch Freuds Entdeckung des Unbewussten, dass der Mensch nicht Herr ist im eigenen Haus. Für viele Bulgaren fügt die Istanbuler Konvention (IK), das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, eine weitere Kränkung solcher Dimension zu.

Sollte die Bulgarische Volksversammlung sie ratifizieren, so fürchten sie, wird die ultraliberale kosmopolitische "Gender-Ideologie" bulgarische Traditionen und Werte untergraben. Jeder Mann, der sich als weiblich empfindet, darf dann die Damentoilette aufsuchen, die gleichgeschlechtliche Ehe muss legalisiert werden und Kleinkinder werden bereits im Gender-Unterricht in der Vorschule dazu angehalten, ihre Geschlechtsidentität frei zu wählen.

Der Heilige Synod der Bulgarischen Orthodoxen Kirche sieht die Zukunft der europäisch- christlichen Zivilisation bedroht. In seiner Deklaration vom 22. Januar 2018 alarmiert er, die Istanbuler Konvention enthalte "ein neues Verständnis des Menschen - der Mensch als eigenmächtiger Herr, der Mensch ohne Gott, der seinen Wünschen und Leidenschaften in einem Maße folgt, dass er sogar sein eigenes Geschlecht bestimmen kann. Dieses Verständnis öffnet die Tore weit dem moralischen Verfall, der unvermeidlich zur psychophysischen Zerstörung des Menschen führt, zum 'zweiten Tod', der der geistige Tod ist."

Die Katholische Kirche und der Großmufti der muslimischen Glaubensgemeinschaft lehnen das Übereinkommen ebenfalls ab, die Jüdische Gemeinde hat sich indes für seine Ratifizierung ausgesprochen.

Befürworter der Istanbuler Konvention wie der Bürgerrechtler Nikolai Hadschigenov halten eine solche Interpretation ihres Vertragstextes für absurd. Ihnen zufolge soll sie lediglich die Gleichstellung von Frau und Mann in Europa stärken, Frauen und Schwache vor Gewalt schützen und Gewalttäter ihrer gerechten Bestrafung zuführen. Die Homoehe fände in ihr ebenso wenig Erwähnung wie das Dritte Geschlecht, unter dem die Konventionsgegner wahlweise Homosexuelle, Transsexuelle und alle weiteren "Variationen der Gender-Ideologie" subsumieren.

Seit Jahresbeginn hat die diskursive Eruption Bulgariens öffentliches Leben dominiert. Sie hat die geplante Ratifizierung der Istanbuler Konvention durch das bulgarische Parlament vorerst gestoppt, nun muss das Bulgarische Verfassungsgericht darüber befinden, ob sie mit Bulgariens höchstem Gesetz in Übereinklang steht.

Heimtückische Konspiration des neoliberalen Globalismus

Am 11. Mai 2011 gehörte Deutschland zu den dreizehn Staaten des Europarates, die in Istanbul das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt unterzeichneten. Nachdem Deutschland sie am 12. Oktober 2017 auch ratifiziert hat, ist sie zum 1. Februar 2018 in Kraft getreten. 46 europäische Staaten haben die IK bisher unterzeichnet und 28 ratifiziert. Unter ihnen sind gemeinhin nicht als Paradebeispiele liberaler Toleranz geltende Staaten wie Albanien, Bosnien und Herzegowina, Polen und die Türkei. In Bulgarien aber, das sich mit Verweis auf die Rettung seiner Juden vor der Vernichtung im Zweiten Weltkrieg als Hort der Toleranz versteht, ist die Diskussion um den völkerrechtlichen Vertrag derart entgleist, dass sie kein gutes Licht wirft auf das geistige Klima in dem Balkanland.

Vor allem an der bulgarischen Übersetzung des englischen Begriffes "Gender" mit "soziales Geschlecht" entzündet sich der Streit. Der englische Originaltext unterscheidet eindeutig zwischen biologischem Geschlecht (Sex) und sozialer Geschlechterrolle (Gender), das Bulgarische kennt aber nur den Begriff Pol (Geschlecht). Außer dem biologischen Geschlecht von Mann und Frau akzeptieren viele Bulgaren aber kein weiteres Geschlecht, auch kein soziales.

Unter Gender bzw. soziales Geschlecht verstehen sie nicht den gesellschaftlichen Erwartungsdruck auf die biologischen Geschlechter zur Einnahme stereotyper Rollen á la Kinder, Kirche, Küche. Sie wittern in dem Terminus eine heimtückische Konspiration des neoliberalen Globalismus, den Bulgaren das Dritte Geschlecht unterzujubeln.

"Die Konvention kann ja nur von arbeitslosen Lesben verfasst worden sein", kommentierte etwa der prominente Regisseur Andrej Slabakov. Und der Universitätsprofessor Dragomir Draganov drohte gar: "Ich werde jeden erwürgen, der meinen Enkelchen sagt, sie können frei wählen, ob sie Lesbe oder Päderast werden wollen."

"Die Situation beginnt der Rettung der bulgarischen Juden im Zweiten Weltkrieg zu ähneln", sprach der Jurist Vladimir Scheitanov bei einer aufgeheizten öffentlichen Aussprache in der Aula der Sofioter Universität Kliment Ohridski: "Wie damals wird auf Bulgarien starker internationaler Druck ausgeübt." Scheitanov, vor gut einem Jahrzehnt Anwalt der in Libyen inhaftierten bulgarischen Krankenschwestern, sieht der IK ein politischer Hintergedanke innewohnen: "Hinter der Sorge um den Schutz der Frau und der Familie vor Gewalt versteckt sich das Ziel der internationalen Legalisierung von Menschen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung als Subjekte im Familienrecht."

Auch die Sozialistische Partei lehnt die Konvention ab

"Eine internationale Lobby drängt Bulgarien, das Dritte Geschlecht zu legalisieren", trat die nationalistische Partei VMRO noch vor dem Jahreswechsel per Deklaration die Debatte los. Als Teil der Vereinigten Patrioten (VP) ist die VMRO Juniorpartner in der Koalition mit der Regierungspartei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) von Ministerpräsident Boiko Borissov. Die Ratifizierung der Konvention verpflichte Bulgarien, "jedem Ausländer mit besonderem Geschlecht" den Flüchtlingsstatus zu verleihen. "Jeder Transvestit im Iran kann bei uns den Status des Flüchtlings erhalten, weil er in seinem Heimatland verfolgt wird", alarmierte die VMRO in ihrer Erklärung.

Die Nationalisten der VP begreifen die Istanbuler Konvention als Gelegenheit, den vermeintlichen Sittenverfall im "neoliberalen Westen" anzuprangern und so ihr nationalistisches Profil zu schärfen. Dieses hat in den Augen vieler ihrer Anhänger gelitten, da die Regierungsbeteiligung ständig euro-atlantische Bekenntnisse erfordert. Wie die VP-Parlamentsfraktion wollen auch die Abgeordneten der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) der parlamentarischen Ratifizierung der IK ihre Zustimmung versagen. BSP-Vorsitzende Kornelia Ninova erkennt in der Frage offenbar einen geeigneten Schauplatz für den politischen Kampf gegen Borissovs GERB.

Selbst von ihrem Amtsvorgänger, Ex-Ministerpräsident Sergej Stanischev, lässt sich Ninova von ihrer Anti-Haltung gegen die IK nicht abbringen. Stanischev, inzwischen Chef der Partei Europäischer Sozialisten (PES), drohte der BSP vergebens mit dem Ausschluss aus der PES, sollte sie sich der Ratifizierung des Übereinkommens verweigern. Ninova fordert nun eine Volksbefragung. "Die Frage eines solchen Referendums kann nur lauten: 'Sollen wir unsere Frauen schlagen oder nicht?'", kommentierte dies Regierungschef Borissov trocken.