Zehn Wahlurnen im Athener Parlament entscheiden über die Zukunft

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Die Affäre um den Pharmakonzern Novartis in Griechenland nimmt immer schrillere Formen an. Auch vorgezogene Neuwahlen scheinen möglich

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Nach dem früheren Premierminister Antonis Samaras, dem früheren Vizepremier Evangelos Venizelos und dem früheren Gesundheitsminister und aktuellem EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos hat nun auch der frühere Gesundheitsminister und aktuelle Vizevorsitzende der Nea Dimokratia, Adonis Georgiadis, Anzeige gegen die Belastungszeugen erstattet.

Am heutigen Mittwoch wird indes im Parlament über den Antrag der kompletten Syriza-Fraktion zur Einleitung von Strafverfahren gegen zehn verdächtige Spitzenpolitiker entscheiden. "Novartis-Gate", wie die Griechen die Affäre nennen, könnte für den zuletzt stark in der Wählergunst abgesunkenen Premier Alexis Tsipras einen perfekten Anlass für vorgezogene Neuwahlen liefern.

Wer beeinflusst die Justiz?

Unterdessen haben "Kreise der Justiz, welche der früheren Regierung nahe stehen" Unterschriften gesammelt und beantragt, der ermittelnden Staatsanwältin für Korruption, Eleni Touloubaki, die Akte Novartis zu entziehen. Touloubaki hatte ihr Amt erst im vergangenen Jahr angetreten. Die mehrsprachige Juristin, mit Erfahrung in Fällen, wie den Panama-Papers, der HSBC-Liste und dem Volkswagen-Abgas-Skandal war mit zehn zu eins Stimmen beinahe einstimmig in ihr Amt gewählt worden.

Regierung und Opposition werfen sich gegenseitig Manipulation der Justiz vor. Die Opposition stört sich daran, dass Minister und Parlamentarier der Regierung bereits im Vorfeld über den Fall plauderten. Die Regierung zeigt sich entsetzt darüber, wie die Opposition ihre alten Seilschaften im Justizapparat ausnutzt.

Schließlich müssen sich die Zeugen der Affäre mindestens verunsichert fühlen. Sie wurden per Beschluss der ermittelnden Justiz am 8. Februar zu geschützten Zeugen erklärt und sollten eigentlich Anonymität genießen. Sollten, denn zumindest der Name einer Zeugin wurde von der Presse aufgedeckt.

Es handelt sich um eine frühere Angestellte der Firma Novartis, die bereits bei ihrer Befragung durch US-amerikanische Ermittler in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war. Das FBI schickte seine Ermittlungsergebnisse nach Griechenland und brachte damit die griechischen Strafverfolger auf die Spur.

Weil die entsprechenden Ermittlungsakten des FBI Teil der Anklageschrift sind, und weil offenbar vergessen wurde, den Namen der Zeugin vor Übergabe der Anklageschrift ans Parlament zu schwärzen, war zumindest im Fall dieser Zeugin der Schutz hinfällig.

Anzeige gegen Tsipras

Zudem müssen die Zeugen nun ihre eigene Strafverfolgung fürchten. Der frühere Premier Antonis Samaras hatte als erster Anzeige gegen Premierminister Alexis Tsipras, die für Justiz verantwortlichen Minister, die Staatsanwältin, aber auch gegen die Zeugen eingereicht. Im Fall von Tsipras und seinen Ministern dürfte die Anzeige an der parlamentarischen Immunität der Politiker scheitern.

Bei der Staatsanwältin besteht zumindest die Möglichkeit, dass diese sich auf die Zeugenaussagen beruft. Die Zeugen selbst sind nun in der Bringschuld. Ähnliche Strafanzeigen stellten Adonis Georgiadis, Evangelos Venizelos, Andreas Loverdos und EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos.

Im Fernsehen erklären die Politiker wie Andreas Loverdos: "Ich werde sie zerschmettern, diese Halunken!". Das Thema beherrscht in Griechenland die Schlagzeilen und Rundfunkberichte. Fast alle politischen Sendungen laden dazu die in den Fall verwickelten Politiker ein und geben ihnen Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzustellen.

Interessant ist, dass Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis und die verwickelten Politiker in öffentlichen Stellungnahmen die Frage stellen, wovor sich die Zeugen denn fürchten würden, schließlich würde keiner von ihnen mit dem Tod bedroht.

Während die Nea Dimokratia noch die Existenz einer Affäre anzweifelte, verblüffte der ebenfalls in den Fall verwickelte frühere Vize-Gesundheitsminister Marios Salmas seine Parteigenossen mit der Aussage, dass er selbst von den USA aus hinsichtlich einer Zeugenaussage kontaktiert wurde. Interessant ist zudem, dass einer der unter Zeugenschutz stehenden Aussagewilligen geleakten Informationen gemäß selbst Politiker oder ehemaliger Politiker sein soll.

Turbulenter Showdown im Parlament

Die Parlamentsdebatte wird turbulent werden. Für Aufregung sorgen dabei nicht nur die zu erwartenden Debatten, sondern das gesamte Prozedere. Die Sitzung hat um 9 Uhr morgens begonnen. Für 53 angemeldete Redner stehen offiziell pro Rede zwanzig Minuten zur Verfügung.

Viele der Politiker, Premier Alexis Tsipras, Evangelos Venizelos oder Adonis Georgiadis sind jedoch bekannt dafür, dass sie Redezeiten regelmäßig hoffnungslos überziehen. Somit ist mit einem Ende der Redeschlacht im Parlament erst nach Mitternacht zu rechnen.

Danach steht der nächste Marathon an. 295 Abgeordnete müssen über das Schicksal der zehn Kollegen entscheiden, fünf weitere über jeweils neun Politiker. Es werden zehn Wahlurnen aufgestellt, eine für jeden Verdächtigen.

Drei Stimmzettel pro Verdächtigen

In einer anonymen Wahl werden die Parlamentarier namentlich aufgerufen und müssen in jede der Urnen einen verschlossenen Umschlag mit ihrem Stimmzettel werfen. Pro Verdächtigen werden drei Stimmzettel zur Verfügung gestellt.

Einer für die Strafverfolgung, einer dagegen und einer für die Stimmenthaltung. Danach müssen per Hand und mit dem anachronistisch anmutenden Verfahren die 2995 Stimmzettel sortiert und mehrfach ausgezählt werden.

Zur Stimmabgabe an allen Urnen sind nur 295 der 300 Parlamentarier berechtigt, weil mit Antonis Samaras, Evangelos Venizelos, Adonis Georgiadis, Andreas Loverdos und Marios Salmas ansonsten Verdächtige über sich selbst richten würden. Hinsichtlich der erforderlichen Mehrheit sind die Verfassungsbestimmungen eindeutig. Sie sind in Artikel 86 festgeschrieben.