Ost-Ghouta: Die Hölle und der Tunnelblick

Jaish-al-Islam bei der Lagebesprechung zu Ostghouta. Bild: Propaganda/Twitter

"Schlimmer als Aleppo": Die zivilen Toten durch Bomben sind erneut Anlass für große Entrüstung über Baschar al-Assad und Wladimir Putin. Dabei legt man zweierlei Maßstäbe an

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Wenig westliche Journalisten dürften sich Ost-Ghouta so genau angeschaut haben wie der schwedische Syrien-Spezialist Aron Lund. In seinem 50-seitigen Bericht über die "Rebellen-Enklave" kann man deren Entwicklung seit 2011 nachlesen, mit ein paar historischen Schlaglichtern, die in frühere Zeiten strahlen.

Schon in sehr alten Zeiten und im berühmten "1001 Nacht" sei Damaskus wegen der Schönheit von Ghouta gepriesen worden, so Lund - "viel Wasser gibt es dort, blühende Bäumen, Vögel fliegen vorbei, die Blumen, paradiesisch" (Ibn al-Wardi, 14. Jhd.).

Im Augenblick ist das nicht so. Ost-Ghouta ist die Hölle. "250 Tote in 48 Stunden", meldete die Tagesschau heute Morgen. "Schlimmer als Aleppo", kommentierte die Taz gestern die "Offensive auf Ghouta" mit der Unterzeile:

Das Assad-Regime bombardiert Ghouta in einem bislang einmaligen Ausmaß. Nur interessiert das kaum noch jemanden außerhalb Syriens.

Taz

Ob das wirklich "kaum noch jemanden außerhalb Syriens" interessiert, wäre angesichts der breiten Berichterstattung über die Angriffswelle in deutschen Medienauftritten im Internet, im Hörfunk und im Fernsehen wie auch in der internationalen Öffentlichkeit sehr die Frage. Es ist nicht die einzige, die der Kommentar aufwirft.

Wie in Aleppo

Er ist exemplarisch, weil er unmittelbar und sofort schon im Titel den Vergleich zu Aleppo zieht und weil im Text die zwei elementaren Vorwürfe, womit das mörderische Geschehen in Syrien üblicherweise in den großen Medien gezeichnet wird, dort ohne viel Drumherum in Reinkultur hingeschrieben werden.

Denn die Strategie des Regimes ist die Vernichtung der eigenen Bevölkerung. (…).

Taz

Und:

Es scheint, als habe Russland dem Regime grünes Licht für seine Auslöschungskampagne in Ghouta gegeben.

Taz

"Mindestens 250 Zivilisten wurden in den letzten 48 Stunden eines unaufhörlichen Angriffs getötet, der am Montag begann", schrieb AP gestern. 58 Kinder unter den Toten! Mindestens 1.000 Zivilisten seien verwundet worden. Die Aussicht auf eine totale Offensive könnte eine Katastrophe für 400.000 Bewohner bedeuteten, die in der Falle sitzen.

Die Zahlen hat AP wie auch die Tagesschau vom Syrian Observatory for Human Rights. Die Bilder zeigen eifrige Weißhelme, wie immer bei der Arbeit, wenn das "Regime mit russischer Unterstützung" angreift. Bei anderen Angriffen sind sie nie zu sehen.

Der Vorwurf, der weit widerhallt, von der UN-Spitze bis zu zig Hilfsorganisationen, heißt: Die syrische Luftwaffe wirft Bomben ohne Rücksicht in bewohnte Viertel, macht die Arbeit von Hilfsorganisationen unmöglich, lässt keine Hilfslieferungen zu. Schon seit vielen Wochen nicht.

Wie in Mosul und Rakka?

Man vergleiche nun den Chor der Entrüstungsaufschreie, der dem von Aleppo 2016/2017 gleicht, mit dem zu den todbringenden Bombenangriffen auf Wohnviertel in Mosul in den ersten Monaten des letzten Jahres und in Rakka im Sommer 2017. Der Unterschied ist beträchtlich.

Keiner in den politisch tonangebenden Medien der "guten Länder" hatte die USA und ihre Verbündeten, etwa Frankreich, die Mosul und Rakka in großen Teilen in Schutt und Asche bombten, als "Vernichter einer Bevölkerung" deutlich und vernehmbar angeklagt oder sich dezidiert über eine "Auslöschungskampagne" aufgeregt. Waren die Zivilisten in den beiden Städten nicht auch Geiseln?

Sind denn nun so viele Berichterstatter zu großen und feinsinnigen Kennern salafistischer Strömungen und dschihadistischer Ideologien geworden, dass sie so trefflich zwischen den Geiselnehmern aus den Reihen des IS und der anderer radikal-islamistischer Gruppen, wie etwa Jaish al-Islam oder als-Nusra unterscheiden können, so dass es einen entscheidenden Unterschied in der Bewertung der Brutalität macht, ob eine Bevölkerung unter der Kontrolle von Jaish al-Islam, Hayat al-Tahrir al-Sham, Failaq al-Rahman bombardiert wird oder unter der Kontrolle des IS?

Blick in die "Rebellen-Enklave"

Wer in den eingangs genannten Hintergrundbericht von Aron Lund schaut, der wird etwa auf Seite 17 erfahren, dass die sogenannte "Rebellen-Enklave" Ostghouta schon vor gut 5 Jahren mit der sich ausbauenden Herrschaft der Jaish al-Islam unter deren Führer Alloush absolut nichts mit "Demokratie" am Hut hatte.

Aber er hatte viel für eine althergebrachte "pure" salafistische, sunnitisch-inspirierte Vision einer Staatsordnung, Gerichtsbarkeit und Rechtgläubigkeit übrig, die ihn davon sprechen ließ, dass er die Levante von "schmutzigen Schiiten" reinigen wolle. Natürlich gibt es große Unterschiede zum IS, aber eben auch Gemeinsamkeiten, die auffallen.

Zu den Unterschieden gehört, dass Alloush später als "guter Rebell" verkauft wurde und von Golfstaaten ziemlich offen mit viel Geld unterstützt wurde. Er hatte die unverhohlene Sympathie vieler Länder, die die Regierung von Baschar al-Assad hassten.

Man erfährt bei Aron Lund, der übrigens kein Freund von Baschar al-Assad, der Regierung in Damaskus oder von Putin ist, auch, dass der al-Qaida-Ableger in Syrien, die al-Nusra-Front, mithin ausgesprochene Dschihadisten, seit einigen Jahren in Ost-Ghouta nicht die kleine, unwichtige Rolle spielt, die man der Gruppe nun unter dem Namen Hayat al-Tahrir al-Sham von politisch interessierter Seite zuweisen will.

Sie waren und sind schon wichtige Mitspieler im Kampf um die Vorherrschaft von Ost-Ghouta, der nach dem Tod des Jaish al-Islam-Führers Zahran Alloush mit neuer Wucht entbrannte.

Man erfährt viel bei Aron Lund über diese jahrelangen Machtkämpfe und dadurch auch, wie denn das Modell einer Herrschaft von islamistischen, salafistischen Milizen mit Schariagerichten in der Praxis aussieht. In vielem gab es Ähnlichkeiten zu einer Mafiaherrschaft.

Raketen von der anderen Seite

Was man bei Aron Lunds Hintergrundbericht nicht erfährt, weil es dort nicht um die aktuelle Lage geht, aber eben auch nur selten in aktuellen Berichten, ist, dass die bewaffneten Milizen in der Nachbarschaft der syrischen Hauptstadt Raketen und anderes ziemlich zielgerichtet nach Damaskus feuern und damit auch Zivilisten tödlich treffen.

Es gibt auch andere Hauptstädte im Nahen Osten, wo man aufgrund solcher Einschläge zu drastischen Gegenmaßnahmen schreitet.

Die Offensive der syrischen Truppen auf Ostghouta, die im Moment über Luftangriffe erst vorbereitet wird, ist die Hölle für die Zivilbevölkerung, die dort als Geisel der sich bekämpfenden und wieder verbündenden Milizen gehalten werden, und zum Opfer einer rigorosen Angriffswelle werden. Das ist nicht weniger hässlich als für die Bewohner in Rakka oder Mosul.

Den syrischen Präsidenten oder "die Russen" als Teufel auszumachen, ist irreführend. Es dient hauptsächlich zur Verfestigung von Feindbildern. Auch das ist Kriegsführung.