"Wo bleiben inhaltliche Tiefe und umfassende Durchdringung?"

Dokumentarist Thorolf Lipp über Dokumentarfilme in den öffentlich-rechtlichen Medien und die Bedeutung dokumentarischer Medien für die Demokratie

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Dokumentarfilmer, die weniger als 10 Euro die Stunde verdienen und ein neuer ARD-Vorsitzender, der "eine Art Offenbarungseid" im Hinblick auf die Neuausrichtung des Programms abgegeben hat. So sieht es der Dokumentarist und Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG DOK).

Im zweiten Teil des Telepolis-Interviews betont er die Bedeutung des nonfiktionalen Fernsehens für die Demokratie und findet, dass dokumentarische Medien "eine Art vertrauensbildender Kit" seien, "der unsere Gesellschaft" zusammenhalte. "Und wenn dieser Kit bröckelt, wenn Vertrauen erodiert, weil Menschen sich nicht ernstgenommen oder sorgfältig abgebildet fühlen, wenn Ihre Themen und Lebenswelten gar nicht mehr vorkommen, dann kann das auf Dauer nicht gut gehen", so Lipp weiter. Der Auftrag, den das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem habe, nämlich "Wirklichkeit so präzise und vielschichtig wie möglich abzubilden" lasse sich nicht, "halbherzig und zu Dumpingpreisen ausführen". (Erster Teil des Interviews: Öffentlich-Rechtliche: "Ein tendenziell zu einseitiges Programm")

Um auf die finanzielle Situation einzugehen: Um welche Summen geht es, wenn ein Dokumentarfilmer mit den öffentlich-rechtlichen Anstalten ins Geschäft kommt? Wie darf man sich das vorstellen? Wie viel Zeit wird veranschlagt? Was bleibt am Ende finanziell übrig, wenn es gut bzw. wenn es schlecht läuft?

Thorolf Lipp: Eine für alle Szenarien gültige Antwort auf diese Frage kann es nicht geben, dafür gibt es zu viele denkbare Konstellationen. Bei arte etwa gibt es feste Sätze für einzelne Programmplätze, die praktisch nicht verhandelbar sind. Demnach darf ich für eine im Ausland gedrehte Dokumentation von 45 Minuten Länge in der Regel zwischen vier und zehn bezahlten Tagen drehen und genauso viele Tage schneiden. Mittel für Vorab-Recherchen gibt es nicht. Das muss man sich mal vorstellen. Der Sender geht einfach davon aus, dass man Themen und Geschichten irgendwo aufschnappt, dann mal eben direkt hinfährt und losdreht.

In der Regel sieht die Realität aber anders aus, oder?

Thorolf Lipp: Tatsächlich ist man mitunter monatelang mit Themenfindung und Recherche befasst und muss das dann mit den ohnehin schon sehr dürftigen Produktionsmitteln und der mageren Regiegage querfinanzieren. Bei anderen Sendern wird, je nach Sendeplatz, auch mal etwas mehr bezahlt und es entstehen fraglos immer noch gute, nur mäßig formatierte Filme, für die man mitunter sogar mal 15 Tage und länger drehen kann.

Trotzdem: Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass, je komplexer das Thema und je länger der Film ist, desto schlechter ist die Bezahlung. Besonders deutlich ist das beim langen Dokumentarfilm zu sehen, wo die Kolleginnen und Kollegen ja mitunter zwei oder drei Jahre an einem einzelnen Film arbeiten. Ich verweise hier auf die sog. "Stuttgarter Erklärung", wo die Misere des langen Dokumentarfilms beispielhaft sichtbar wurde. Demzufolge verdienen Dokumentarfilmregisseure im Durchschnitt weniger als 10 Euro in der Stunde.

Wirtschaftlich kann diese Rechnung für Produzenten eigentlich nur dann aufgehen, wenn sie sehr viel sehr schnell produzieren. Wenn die Produzenten also zum Beispiel Ratgebersendungen oder Reihen herstellen, die immer nach dem gleichen Muster aufgebaut sind und an die wirklich brisanten Fragen des Lebens gar nicht rankommen können und wollen. Das ist kein Vorwurf, das ist einfach eine Beobachtung dessen, was ist. Es geht auch nicht darum, diese Formate zu kritisieren, abgesehen davon, dass auch sie oft zu schlecht finanziert sind, um wirklich gut sein zu können. Es gilt vielmehr die Frage zu stellen, wo denn das öffentlich-rechtliche Fernsehen in nennenswertem Umfang Mittel freimacht, um die anderen Fragen zu behandeln.

Sprechen wir nochmal explizit über den abendfüllenden Dokumentarfilm: Wo bleiben inhaltliche Tiefe und umfassende Durchdringung, wo bleiben innovative Themen und heute unüblich gewordene filmische Formen? Und wenn es sie gibt, von wem werden sie finanziert? Wo sind innerhalb der Sender die finanziellen Möglichkeiten für Experiment und Exzellenz? Und vor allem: wo kann das dann gesendet werden, wenn es keine Regelsendeplätze für diese Filme gibt?

Tatsächlich gäbe es jetzt schon eine Vielzahl sehr guter, in Deutschland hergestellter Produktionen. Sie entstehen zu einem großen Teil als Resultat einer Mischkalkulation aus Filmfördermitteln und einer großen Bereitschaft der Regisseure und Produzenten zur Selbstausbeutung. Der Finanzierungsanteil der der Sender beträgt nicht selten nur noch 20%. Und viele Filme entstehen ganz ohne Senderbeteiligung. Die Produzenten und Regisseure zahlen somit im Grunde den Löwenanteil der Produktion und schenken dem System dabei immer noch eine oft erstaunliche Qualität. Das ist eine soziale Praxis, die sich aus einer Reihe von Gründen in den letzten Jahrzehnten so etabliert hat und die wir heute für ganz normal halten.

Auf der anderen Seite halten wir es aber auch für normal, dass ein Fernsehfilm, etwa ein Tatort, vom Sender voll finanziert wird. Hier wird also mit zweierlei Maß gemessen. Das System benachteiligt ausgerechnet diejenigen, die sich die Welt genauer angucken wollen, um letztlich zu ihrem Gelingen beitragen zu können. Das ist eine ethische Bankrotterklärung der öffentlich-rechtlichen Sender und für die Filmemacher eine soziale Katastrophe.