Frankreich: Maßnahmenkatalog gegen Radikalisierung

Bild: Ausschnitt des Maßnahmenkatalogs der französischen Regierung

Die Regierung stellt 60 Punkte vor, die vorbeugen sollen, aber noch wenig Konkretes vermitteln

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Der französische Premierminister Edouard Philippe hat heute zusammen mit dem Innenminister Gérard Collomb und der Justizministerin Nicole Belloubet sowie weiteren hochrangigen Regierungsmitgliedern ein neues großes Vorhaben vorgestellt: die Prävention der Radikalisierung.

Die Anwesenheit von Hochkarätern der Regierung vermittelt, dass es um Ernstes geht, der Hintergrund sowieso - kein anderes Land in Europa ist in den letzten Jahren derart von Terroranschlägen heimgesucht worden, der IS im Irak und in Syrien hatte oder hat einen großen Pulk an französischen Dschihadisten. An Gründen für Vorbeugungsmaßnahmen gegen Radikalisierung fehlt es nicht, aber der Plan irritiert, weil sich seine Konturen kaum fassen lassen.

11.000 potentielle "Gefährder"?

Wie schwierig das Terrain beschaffen ist, zeigt sich schon an dieser Größenordnung: 11.000 Personen werden aktuell von den französischen Geheimdiensten "berücksichtigt" oder "beachtet", wie es im Bericht von Le Monde heißt, "prises en compte". 11.000 von insgesamt 19.745 Personen, die in der Datenbank unter einem langen Dossiernamen aufgelistet sind.

"Fiche S" kennt man mittlerweile auch in Deutschland. "S" steht für Sicherheit des Staates (Sûreté de l'État) und die derart Aktenkundigen könnte man annäherungsweise mit "Gefährder" übersetzen. Auch daran mangelt es nicht. Ein Bericht von April 2017 meldet 12.000 Personen, die bei den Geheimdiensten und Polizei als "fichées S" registriert sind.

Der oben angesprochene lange Dossiername ist hierzulande unbekannt und mustergültig administrativ: "fichier de traitement des signalements pour la prévention de la radicalisation à caractère terroriste" (FSPRT), wörtlich übersetzt: "Register (oder Datei) für die Verarbeitung von Meldungen über Personen zur Prävention der Radikalisierung terroristischer Natur".

Wer sich fragt, was das genau bedeuten soll, kommt in etwa zum Ergebnis, dass damit Personen gemeint sind, die sich laut Signalisierungen zu Gefährdern entwickeln könnten. Wer es genauer wissen will, landet, wie Libération Ende letzten Jahres darlegte, bei Unterscheidungsproblemen: Sind nun 17.000, 18.500 oder 12.000 in der FSPRT-Datenbank und was bedeutet das genau? Wie gefährlich sind die FSPRT Registrierten? Wie passen die Sicherheitsdienste auf?

Deradikalisierung funktioniert nicht ...

Der beinahe einzige solide Ausgangspunkt des Maßnahmenkatalogs der Regierung zur Prävention der Radikalisierung - Titel: Prévenir pour Protéger, auf Deutsch: Vorbeugen, um zu schützen - ist die Gewissheit, dass Deradikalisierungs-Programme in Frankreich bislang überhaupt nicht funktioniert haben.

Ein(e) überzeugte(r) Dschihadist(in) kann vom IS enttäuscht sein, sie oder er wird aber in der Regel nicht von ihren Überzeugungen ablassen, war das auch Fazit, das aus den Erfahrungen gezogen wurde, die der Journalist David Thomson in seinem Buchen "Les Revenants/Die Wiederkehrer" beschrieben hat.

... und vorbeugende Maßnahmen gegen Radikalisierung?

Wie nun aber eine Art vorbeugender De-Radikalisierung geschehen soll, war die Aufgabe, die sich die Regierung gestellt hat. Das Ergebnis, das heute vorgestellt wurde, spiegelt, wie man auch in den Presseberichten dazu ablesen kann, wieder, was oben mit den Datenbanken angedeutet wurde: große Zahlen und viel Ungefähres.

Nicht weniger als 60 Maßnahmen auf 5 großen Achsen präsentiert die Regierung unter Premierminister Edouard Philippe als Vorbeugungsmaßnahmen und wenn man die fünf Achsen vorstellt, dann kann man sich schon ein Bild davon machen, wie konkret und zwingend das Programm ist.

  1. Den guten Geist bewahren gegenüber der Radikalisierung
  2. Das Muster "Entdecken/Prävention" vervollständigen
  3. Verstehen und Antizipieren der Entwicklung der Radikalisierung
  4. Die Professionnalisierung lokaler Akteure und die Evaluation ihrer Aktivitäten
  5. Das "Désengagement" anpassen

So leicht, dass man die Punkte als pures Wortgeklingel abtun könnte, liegt die Sache allerdings nicht. Der letzte Punkt befasst sich beispielsweise mit dem Umgang mit Minderjährigen, die aus dem Irak oder Syrien zurückkommen. Wie bereits berichtet, gibt es zwar innerhalb der französischen Regierung die Haltung, dass Dschihadisten mit französischer Staatsbürgerschaft nicht zurückkommen sollen. Das gilt aber nicht für deren Kinder.

Die Frage, wie mit ihnen umgegangen werden soll, gehört zu den schwierigsten. Die Maßnahmen 52 bis 54 liefern zumindest den Rahmen, wie die institutionelle Betreuung dieser Problemfälle aussehen kann. Mit welchen Erfolg und welchen Schwierigkeiten, das verbunden ist, darüber wird künftig sicher noch einiges berichtet werden.

Im Vorfeld der Überwachung

Es sind allesamt Maßnahmen, die im Vorfeld der Arbeit der Sicherheitsdienste angesiedelt sind, es gehe nicht um Überwachung, wie Le Monde betont, sondern um den Umgang mit Verhalten und Praktiken, die die Gesellschaft herausfordern.

Das beginnt mit dem Verhältnis zwischen Laizität und Religion, zum Beispiel in der Schule, und endet bei Verschwörungstheorien im Internet. Zu den Maßnahmen gehören eine bessere Kontrolle der Lehrer, die in nicht-staatlichen Schulen arbeiten, eine bessere Schulung der Heranwachsenden gegenüber Medieninhalten sowie die Absicht, Internetplattformen mehr in die Verantwortung zu ziehen.

Das alles hat die problematischen Aspekte, die man aus den Debatten über Fake News und hetzerische Inhalte kennt. Welche konkreten Veränderungen die neuen Präventionsmaßnahmen mit sich bringen, wird sich erst zeigen.

Und auch das ist konkret: Es wird mehr Gefängnisse geben.