"Medien reden von Objektivität und Neutralität, produzieren aber genau das Gegenteil"

Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen über den Imperativ der Aufmerksamkeit und die Medienrealität

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Soft News anstelle von harten Nachrichten zu Politik und Wirtschaft, persönliche Befindlichkeiten und Küchenpsychologie ersetzen die sachliche Analyse: Die Berichterstattung der Medien hat viele Schlagseiten. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen hat sich nun in dem Buch "Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand" die Medien genauer angeschaut. Seine Erkenntnis: Die Berichterstattung funktioniert heute nach einer Logik, die einem wirklich kritischen Journalismus im Wege steht. Im Interview mit Telepolis erklärt Meyen, der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Journalisten ausbildet, was es mit dem "Imperativ der Aufmerksamkeit" auf sich hat und was mit dem Ausdruck "Medienrealität" gemeint ist.

Herr Meyen, eine der Hauptaufgaben von Journalisten überhaupt, nämlich die Auswahl und Gewichtung von Nachrichten, läuft heute in macher Hinsicht auf eine andere Weise ab als noch vor 30 Jahren. Das sagen Sie zumindest in Ihrem Buch. Wo liegt das Problem, wenn Journalisten heute selektieren?

Michael Meyen: Die Konkurrenz ist heute ganz anders. Das Tempo, das Internet und soziale Medien vorgeben. Wenn der Redakteur in Deutschland schlafen geht, wird die Nachrichtenschraube in Kalifornien weitergedreht. Viele Konkurrenten arbeiten unter anderen Bedingungen, ohne Pressekodex, ohne Pressegesetz, ohne Rundfunkstaatsvertrag. Außerdem sieht jeder Journalist in Echtzeit, was funktioniert. Welcher Teaser, welche Überschrift, welcher Dreh. Da ist es schwer, einfach zu sagen: Ich mache das Thema, weil ich es wichtig finde oder weil es gar für die Gesellschaft insgesamt wichtig ist.

(Bild: [Link auf https://www.westendverlag.de/buch/breaking-news-die-welt-im-ausnahmezustand/] )

"Viele Themen passen nicht in die Aufregungsmaschine"

Können Sie Ihre Beobachtung an einem Beispiel festmachen. Worüber berichten heute große Medien an prominenter Stelle im Vergleich zu früher?

Michael Meyen: Es gibt viel mehr Soft News. Sport, Gesundheit, Human Interest. Über Politik und Wirtschaft wird nicht nur weniger berichtet, sondern auch ganz anders als vor 30 Jahren. Negativer, emotionaler, stärker an Prominenten und Experten aufgehängt und vor allem an Konflikten. Wenn sich zwei streiten, die mächtig sind, dann wird das ein Medienthema. Man konnte das schön sehen, als die Gespräche zwischen SPD und CDU beendet waren. Schulz gegen Gabriel gegen Nahles. Persönliche Befindlichkeiten, Küchenpsychologie. Was sich die beiden Parteien vorgenommen haben, ging dabei völlig unter.

Was bedeutet das?

Michael Meyen: Wir bekommen perfekten Gesprächsstoff. Alt gegen jung, Frau gegen Mann, Trainer gegen Spieler: Da kann jeder mitreden. Und die Geschichte wird weitergeschrieben, Tag für Tag. Verloren geht dabei die Orientierung. Der Überblick über das, was wirklich wichtig ist, was uns als Bürger und als Menschen interessieren müsste.

Viele Themen passen nicht in die Aufregungsmaschine. Der Klimawandel zum Beispiel, die Folgen unserer Lebensweise hier im Westen für den Rest der Welt, überhaupt globale Bedrohungen. Der Souverän braucht Aufklärung und Wissen und bekommt stattdessen Aufregung und Ablenkung. Die Frankfurter Schule würde sagen: Die Kulturindustrie sorgt dafür, dass wir uns über unsere wahre Lage täuschen, und produziert so Zustimmung.

Sie sprechen von einem "Imperativ der journalistischen Aufmerksamkeit". Was hat es damit auf sich?

Michael Meyen: Superlative, Sensationen, Dinge, die es so noch nicht gab. Das Spiel des Jahres. Der Spieler des Jahrhunderts. Das, was wir so nicht erwartet haben. Dieser Imperativ regiert im Moment ja nicht nur den Journalismus. Heute scheint jeder die Medien zu brauchen. Nichts geht mehr ohne öffentliche Aufmerksamkeit und ohne öffentliche Legitimation, egal ob man irgendwelche Bauprojekte plant oder die eigene Karriere. Selbst Wissenschaft zielt inzwischen auf Medienpräsenz.

Der Imperativ der Aufmerksamkeit verändert deshalb die ganze Gesellschaft und auch unseren Alltag. Ich nenne das PR-Bewusstsein. Wir denken die Medienlogik mit, selbst wenn wir für etwas ganz anderes bezahlt werden und auch etwas anderes tun sollten. Gut aussehen und gut rüberkommen. Das ist aber nicht das, worum es zum Beispiel in der Schule eigentlich gehen sollte oder in der Politik.

"Wir werden unzufrieden mit all der Normalität"

Sie kommen in Ihrem Buch zu einem ziemlich schwerwiegenden Befund. Sie schreiben, dass das System Massenmedien seine öffentliche Aufgabe nicht mehr erfüllt. Ist die Lage tatsächlich so schlimm?

Michael Meyen: Öffentliche Aufgabe heißt: Informationen bereitstellen, die wir Bürger brauchen, die Mächtigen kritisieren, die Mächtigen kontrollieren und so Orientierung und Meinungsbildung ermöglichen. Das kann ein Mediensystem nicht, das zunächst einmal Aufmerksamkeit maximieren muss. Damit sind wir schnell bei den Eigentumsverhältnissen, bei Medienstrukturen.

Unternehmen müssen Gewinn machen, bei Strafe ihres Untergangs. So etwas wie die öffentliche Aufgabe ist dann höchstens ein "nice to have". Für uns, für die Gesellschaft, heißt das: Wir müssen diskutieren, wie wir das Mediensystem organisieren wollen. Was erwarten wir von den Medien und was wollen wir uns das kosten lassen?

In Ihrem Buch gehen Sie immer wieder auch auf "die Medienrealität" ein. Was ist darunter zu verstehen?

Michael Meyen: Medienrealität ist das, was wir in den Medien finden. Kein Abbild irgendeiner Wirklichkeit, sondern eine zweite Wirklichkeit, auf die wir uns bei jedem Gespräch beziehen können. Das Problem ist: Wenn der Imperativ der Aufmerksamkeit die Medienrealität bestimmt, dann finden wir dort nur noch das, was uns aufregt, was anders ist, was es so noch nicht gab. Man kann sich vorstellen, was das mit unserer Beziehung zur Welt macht. Wir werden unzufrieden mit all der Normalität, die uns zwangsläufig umgibt.

Welche Auswirkungen auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Medien hat es, wenn der Unterschied zwischen der Medienrealität und der "wirklichen Wirklichkeit" zu groß wird?

Michael Meyen: In der Lügenpresse-Debatte geht es ja um ganz konkrete Inhalte. Die Berichterstattung über die Ukraine und über Russland, über Syrien und über die AfD. Da geht es um Einseitigkeit, um Weglassen, um Parteinahme für den Westen oder für die Eliten.

In meinem Buch frage ich nach der Metabotschaft jenseits von solchen konkreten Inhalten. Egal ob Bundestag, SPD oder Fußball-Bundesliga: Die Grammatik der Medienkommunikation ist immer gleich. Ich glaube, dass das ein zweiter Grund für die Vertrauenskrise ist und dass die Medien sich da selbst hineinmanövriert haben. Medien reden von Objektivität und Neutralität, von Ausgewogenheit und Vollständigkeit, produzieren aber genau das Gegenteil: Drama, Story, Meinung.

Mein Vorschlag ist: Werft die alten Qualitätskriterien über Bord und konzentriert euch auf Transparenz. Woher ist das Material, wem hilft es möglicherweise, wie steht ihr selbst dazu. Das würde in Sachen Glaubwürdigkeit jedenfalls nicht schaden.

Noch ein Wort speziell zum politischen Journalismus. Welche Schwachstellen sehen Sie?

Michael Meyen: Die schlechte Ausstattung, die Nähe zu den Mächtigen und ein Selbstverständnis, das eher auf Mitgestaltung zielt als auf Beobachtung. Uwe Krüger hat das ja in seinen Büchern gut analysiert.

Wir sollten aber nicht den Fehler machen, nur auf die Journalisten zu schimpfen. Die Strukturen machen es ihnen nicht leicht. Allein das Bundespresseamt beschäftigt mehr als 400 gut bezahlte Menschen, die nichts anderes machen, als die Welt darüber zu informieren, was Angela Merkel und ihre Minister so tun. Mehr als 400 Menschen, die Nachrichten produzieren, Dossiers, zitierfähige Sätze und die sich auch sonst in jeder Hinsicht darum kümmern, dass Politik und Politiker gut dastehen da draußen. Die Presseleute der Ministerien, der Parteien und der Abgeordneten sind da noch gar nicht mitgerechnet. Auch deshalb tut der politische Journalismus gut daran, sich neu zu erfinden und darüber zu reden, wie man die öffentliche Aufgabe erfüllen kann in einer Welt, die vom Imperativ der Aufmerksamkeit beherrscht wird.

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