Afrin: Die Propaganda der einen ist die der anderen

Nach dem von türkischen und kurdischen Medien veröffentlichten Bild sollen vier alte Menschen gefesselt und mit Sprengfallen umgeben worden sein.

Eine unwahrscheinliche Geschichte soll mit denselben Bildern die bösen "YPG/PKK-Terroristen" oder die bösen türkischen Soldaten entlarven

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Im Krieg um Afrin gab es am Wochenende eine seltsame Propagandakampagne von Seiten der Türken und der kurdischen YPG. Interessant ist das deshalb, weil beide Seiten dieselben Bilder verwenden, um den jeweils anderen zu beschuldigen. Es werden also für die Bilder und Videos unterschiedliche Kontexte hergestellt, die für einen Außenstehenden kein Indiz dazu liefern, welche Version die richtige ist. Der türkische Präsident Erdogan sieht eine globale anti-türkische Propaganda und YPG-Unterstützer am Werke, die mit gefälschten Bildern die Operation Olivenzweig diffamieren wollen. Festzustellen ist, dass die türkische Regierung mit den kontrollierten türkischen Medien eine einseitige Propagandaversion verbreiten wollen, die aber so - orientalisch? - übertrieben ist, dass sie die meisten Menschen mit einigermaßen klarem Kopf kaum wird überzeugen können.

Am Samstag meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur AA unter dem Titel "Terroristen fesseln alte Dorfbewohner und bringen Minen an", die türkischen Streitkräfte hätten bei der Eroberung des Dorfes Maskah vier alte Menschen in einer Scheune entdeckt. Die seien von YPG-Kämpfern, für die Türkei Terroristen, dort eingesperrt und gefesselt worden, als die türkischen Truppen mit ihren Milizen sich näherten. Dazu seien in der Scheune Minen und Sprengfallen angebracht worden, an der Türe seien Handgranaten angebracht gewesen sein. Die Sprengfallen seien entfernt und die vier Menschen an einen sicheren Ort gebracht worden.

Mit den Bildern soll demonstriert werden, dass die kurdische YPG Menschen als Schutzschilde verwende und dass türkische Soldaten, die ihnen helfen wollen, in Gefahr laufen, getötet oder verletzt zu werden. Es drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass die Bilder gestellt sein könnten. Die Szene wirkt einfach zu unwirklich, zumal man sich kaum vorstellen kann, warum die YPG die alten Leute derart behandeln sollte. Könnte es sich um Menschen gehandelt haben, die sich opfern wollten, um türkische Soldaten mit sich zu reißen und zu demonstrieren, dass diese Zivilisten töten? Schwer vorzustellen, dass die alten Menschen irgendeine Gefahr für die YPG darstellen könnten. Sind sie bei der Flucht zurückgelassen worden, weil sie schlicht zu alt waren?

Die Blicke und die Haltung der alten Menschen machen den Eindruck, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben und würden ein böses Spiel mitspielen. Wenn die Menschen nur an den Händen gefesselt worden sein sollen, hätten sie sich auch bewegen können. Wie auch immer, die Szene wirkt bildlich und inhaltlich surreal.

Deutlich wird, dass die Türkei in Afrin die Kurden vertreiben will, um syrische Flüchtlinge aus der Türkei - "unsere Brüder" nach Erdogan - wieder nach Syrien zu bringen und dort anzusiedeln, wahrscheinlich wird es sich um Flüchtlinge oder Kämpfer mit ihren Familien handeln, die der Türkei nahestehen und über die der Einfluss auf Afrin gesichert wird. Dazu muss die YPG und die mit ihr verbundene Bevölkerung als böse dargestellt werden, weswegen von den türkischen Soldaten und Milizen als "Befreier" die Terroristen "neutralisiert" und Dörfer "gesäubert" werden müssen. Die Bevölkerung sei in den vergangenen 5 Jahren von den "Terroristen" unterdrückt oder vertrieben worden, obgleich in Afrin die Einwohnerzahl nicht zurückging, sondern durch die Aufnahme von Flüchtlingen angestiegen ist.

Es kommt ein anderer Raum und eine anders zusammengesetzte Gruppe ins Spiel

Auf einem AA-Video sind die angeblich gefesselten zwei Männer und zwei Frauen in einem anderen Raum zu sehen.

Die Story wurde auch von Yene Safak wörtlich übernommen. Es werden dieselben Fotos veröffentlicht, dazu auch ein Video. Auf diesem sind zunächst wieder die vier alten Menschen (zwei Männer und zwei Frauen) zu sehen, die aber nun angeblich gefesselt in einem anderen Raum gezeigt werden, was den Eindruck verstärkt, dass es sich um eine Inszenierung handelt. Im Anschluss sieht man zwei der Männer und eine der Frauen mit einem weiteren Mann in einem anderen Raum, die aber auch wieder als die Geretteten ausgegeben werden.

Die Nachrichtenagentur AA schickte am Samstag noch einen Bericht nach, in dem Aussagen der angeblich Befreiten zitiert werden. Nach dieser Geschichte sagt der neunzigjährige Osman, sie seien von den YPG/PKK-Terroristen vor der Flucht aus dem Dorf eingesperrt, an den Händen gefesselt und umgeben mit Sprengstoff worden. Die türkischen Soldaten hätten sie befreit und etwa zu essen gegeben. Im angefügten Video heißt es, den alten Menschen seien die türkischen Soldaten und die Kämpfer der Freien Syrischen Armee willkommen. Hier sind allerdings drei Männer und eine Frau zu sehen, auf den Fotografien handelte es sich allerdings um zwei Männer und zwei Frauen. Zwei Männer und eine Frau sieht man sowohl auf den Fotos als auch im Video. Es ist dasselbe Video, das zusammen mit anderen Aufnahmen von Yene Safak veröffentlicht wurde.

Sonst war die Rede von zwei Frauen und zwei Männern. Die Nachrichtenagentur AA präsentiert nun ein Video mit 3 Männern und einer Frau, ein Mann ist neu hinzugekommen, eine Frau verschwunden.

Auch im Weiteren wird die offizielle türkische Story erzählt, nämlich dass die "Terroristen" vor 5 Jahren das Dorf eingenommen hätten: "Möge Allah die türkischen Soldaten segnen." Ähnliches sollen auch die anderen erzählt haben. Der andere Mann, ein Bruder von Osmans Frau, sagte, er sei vor der "Gewalt" des Assad-Regimes aus Aleppo geflohen und habe bei seiner Schwester Unterschlupf gesucht. Aber hier sei er von den YPG-PKK-Terroristen gefoltert worden, seine Frau sei tot, seine vier Kinder seien in die Türkei geflüchtet. Einen Grund, warum die YPG die vier alten Menschen eingesperrt und gefesselt haben sollen, wird hier auch nicht angegeben, nur ein Klischee von den bösen Kurden und den guten türkischen Soldaten, die als Befreier kommen, aneinander gereiht.

In kurdischen Medien waren es die Türken

Am Samstagvormittag wurde dieselbe Geschichte auch in kurdischen Medien mit denselben Bildern veröffentlicht, nur mit umgekehrten Vorzeichen. So heißt es bei ANF, man habe neue Fotos aus dem Dorf Museka erhalten. Hier hätten "Gangs" alte Dorfbewohner als Geiseln genommen, türkische Soldaten seien zu sehen, wie sie den Menschen die Hände am Rücken zusammenbinden. Gezeigt werden diese Bilder allerdings nicht. Hier heißt es, die "türkische Armee und ihre verbündeten Banden versuchen, YPG/YPJ-Kämpfer auf diese Weise für ihre eigenen Massaker an Zivilisten zu beschuldigen".

Das sieht allerdings noch dünner als die türkische Story aus. Vermutlich wurde versucht, die türkische Propaganda schlicht umzudrehen. Vermutlich sind beide Versionen Fake-News, und wahrscheinlich haben sich türkische PsyOps eine dick aufgetragene Story ausgedacht, die sie mit den alten Menschen inszeniert haben. Aber das ist nicht mehr als eine Annahme.

Lügen straft jedoch ein anderes Video die türkische Propaganda, die wie auch Präsident Erdogan immer wieder beteuert, dass keine Zivilisten getötet werden und man mit größter Rücksicht vorgehe. Auf dem Video ist zu sehen, wie eine Gruppe der von der Türkei als "Freie Syrische Armee" bezeichneten Kämpfer, die großenteils aus islamistischen Kampfverbänden stammen, kaltblütig einen halbnackten, fliehenden Bauern zusammenschießen und ermorden, dessen Traktor sie sich angeeignet hatten.