Vietnam: Gedenken an My-Lai-Massaker

Weil er sie im Rahmen seiner Arbeit als Soldatenreporter gelten Ron Haeberles My-Lai-Fotos als US-Regierungsarbeit und damit als gemeinfrei.

Vor 50 Jahren löschten US-Soldaten ein Dorf aus

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Heute findet in der vietnamesischen Ortschaft Son My eine große staatliche Gedenkfeier statt, an der sowohl vietnamesische als auch amerikanische Vietnamkriegsveteranen teilnehmen. Die Gedenkfeier erinnert an den zur Ortschaft gehörigen Weiler My Lai, in dem die C-Kompanie des Ersten Battalions des Zwanzigsten Infanterieregiments der Elften Brigade der 23. US-Infanteriedivision am 16. März 1968 zwischen 347 und 504 Unbewaffnete tötete. Unter den Opfern waren auch kleine Kinder und Frauen, die teilweise gruppenvergewaltigt und verstümmelt wurden (vgl. Das Massaker).

Im offiziellen Bericht der Truppe war zunächst nur von 128 Toten die Rede, von denen 108 Vietkong und nur 20 Zivilisten gewesen sein sollten. Dass es in dem Dorf nur noch Vietkong und praktisch keine Zivilisten mehr gibt, soll der C-Kompanie vorher von Captain Ernest Medina im Rahmen einer von Robert J. Lifton als faktischer "Teil der Trauerfeier für einen gefallen Feldwebel" bezeichneten Rede vermittelt worden sein.

Haltungserwartungen vs. Wahrheit

Dass etwa ein Jahr später die Wahrheit herauskam, liegt unter anderem am Fotografen Ron Haeberle, der sich den damaligen Haltungserwartungen der Armeezeitung Stars & Stripes, für die er die C-Kompanie begleitete, nicht unterwarf, sondern nach der Landung der neun Hubschrauber Fotos machte, die dokumentierten, dass hier in großem Maßstab auf Unbewaffnete geschossen wurde - und zwar nicht mit Kameras. "Ich sah", so Haeberle später,

wie eine Frau tot zusammenbrach und zwischen den Reispflanzen liegen blieb. Die GIs fuhren fort, auf sie zu schießen, zielten immer wieder auf sie. Sie hörten einfach nicht auf. Man konnte sehen, wie ihre Knochen durch die Luft flogen.

Ebenfalls an der damals geforderten Haltung vermissen ließen es der Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der versuchte, seinen Helikopter zwischen Soldaten und Zivilisten zu platzieren, und ein Soldat, der sich selbst ins Bein schoss, um nicht mitmachen zu müssen. Er blieb bei der Aktion der einzige amerikanische Verletzte. Thompson meldete das Massaker zwar, hielt sich dabei aber an den Dienstweg, weshalb seine Eingabe keine größeren Auswirkungen hatte.

Vietnam: Gedenken an My-Lai-Massaker (12 Bilder)

Haeberle wartete dagegen seine Entlassung ab und versuchte dann, mit Diavorträgen auf das Massaker aufmerksam zu machen. Zeitschriften interessierten sich erst dafür, als auch der Veteran Ron Ridenhour unabhängig von ihm mit Briefen auf den Vorfall hinwies. Erst danach kam es zu einer öffentlichen Untersuchung der Vorfälle, die für den 1968 24-jährigen Leutnant William Calley eine theoretisch lebenslange Haftstrafe zur Folge hatte, von der er jedoch nur dreieinhalb Jahre im Hausarrest absitzen musste.

Öffentliche Meinung

Gravierender waren die Auswirkungen der My-Lai-Enthüllungen auf die öffentliche Meinung in den USA. Sie trugen nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar dazu bei, dass der Krieg weiter an Akzeptanz verlor. Zum Beispiel durch Filme wie den am 12. August 1970 gestarteten Soldier Blue, der die My-Lai-Vorwürfe unter Rückgriff auf das Sand-Creek-Massaker von 1864 vorbringt, bei dem Soldaten die Geschlechtsteile getöteter Cheyenne sammelten und sie über ihre Sattelknäufe und Hüte stülpten. In Vietnam waren es keine Geschlechtsteile, sondern gesammelte Ohren, mit denen die (allerdings nicht an My Lai beteiligte) Tiger-Einheit Aufsehen erregte.

Direkt in Filmen angesprochen wurden Vietnamkriegsgräuel erst später - zum Beispiel in Francis Ford Coppolas und John Milius' Apocalypse Now oder in Oliver Stones Platoon (vgl. Über My Lai und besondere Morde im Krieg). Dafür wirkt die einzige dauerhafte US-Niederlage des 20. Jahrhunderts, die dem Land ein nationales Trauma bescherte, in Serien wie Fargo bis heute nach.

Trotz der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung endete der Vietnamkrieg erst am 1. Mai 1975. Weil es in Vietnam auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinen Systemwechsel gab, hielten die USA trotz einer ähnlichen Entwicklung des Landes wie in China auch in den 1990er und 2000er Jahren noch relative Distanz zu Vietnam. Erst 1995 nahmen sie wieder diplomatische Beziehungen auf, Waffenexporte dorthin sind erst seit 2016 erlaubt, was auch damit zusammenhängen könnte, dass das Land nun wegen seines Streits um Inselgruppen im chinesischen Meer als "Feind meines Feindes" und als potenzieller Verbündeter gegen China gilt (vgl. USA erlauben Waffenexport nach Vietnam).