Anschlag Breitscheidplatz: Wurde Anis Amri geschützt?

Anis Amri. Bild: Fahndungsplakat des BKA

Vor dem Untersuchungsausschuss in Berlin berichtet ein Mitbewohner des mutmaßlichen Attentäters über unbekannte Sachverhalte - Noch mehr Vertuschungen?

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Die Fragen zum mutmaßlichen Täter des LKW-Anschlages in Berlin, der am 19. Dezember 2016 zwölf Todesopfer forderte, werden nicht weniger, sondern mehr. Ein Tunesier, bei dem Anis Amri im Jahr 2016 mehrere Monate wohnte, berichtete vor dem Untersuchungsausschuss (UA) von Berlin Dinge, die entweder nicht bekannt waren oder bekannten Darstellungen widersprechen. Konkret geht es um eine Hausdurchsuchung der Polizei, eine mögliche kurzzeitige Festnahme Amris sowie um eine Messerstecherei.

Die Aufklärungsbemühungen ergeben inzwischen aber auch Hinweise auf Vertuschungen durch die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, durch die Bundesanwaltschaft und durch das Bundeskriminalamt. Bisher waren sie für das Landeskriminalamt Berlin nachgewiesen. Wurde Anis Amri in seiner bewegten Zeit in der Hauptstadt durch Behörden geschützt?

Die Befragung des Zeugen Mohammed Ali D. durch den Ausschuss fand in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Moabit statt. Der 28-jährige Tunesier sitzt eine Haftstrafe ab. Der Parlamentspräsident in Berlin hatte seine Vorführung im Abgeordnetenhaus aus Sicherheitsgründen untersagt. Teilnehmen durften an der Sitzung in der JVA lediglich noch Opfer des Anschlages sowie Journalisten. Bürger waren ausgeschlossen.

Mohammed D. stammt aus derselben Stadt in Tunesien wie Amri. Er will ihn aber erst in Berlin 2016 kennengelernt haben. Amri sei zunächst zwei bis drei Monate in einer Moschee untergebracht gewesen. An den Namen könne er sich nicht mehr erinnern. Möglicherweise handelte es sich um die inzwischen geschlossene Fussilet-Moschee, die Amri immer wieder aufgesucht hatte, zuletzt eine Stunde vor dem Anschlag am 19. Dezember 2016.

Irgendwann im Frühsommer 2016 will D. Amri in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln untergebracht haben, etwa drei Monate lang. In den Räumen wohnten auch sein Bruder sowie ein Tunesier namens Mohamad K., der in der weiteren Geschichte ebenfalls eine Rolle spielen sollte.

Diese Wohnung sei einmal von der Polizei durchsucht worden, so D. Damals habe Amri aber nicht mehr bei ihm gewohnt. Anwesend seien er, sein Bruder, Mohamad K. sowie ein anderer tunesischer Freund gewesen. Die Razzia fand vor dem LKW-Anschlag auf dem Breitscheidplatz statt, stand aber möglicherweise mit einem Vorfall in Zusammenhang, der sich im Sommer 2016 ereignet hatte und an dem Amri wiederum beteiligt war. Dieser Vorfall rückt nun in den Fokus auch der Abgeordneten.

Manipulation durch die Polizei bezüglich Amri wegen einer Messerstecherei?

Am 11. Juli 2016 kam es in einer Sisha-Bar, die als Drogenumschlagsort bekannt war, zu einer Schlägerei zwischen Mohammed D., Amri und Mohamad K. auf der einen Seite und drei anderen tunesischen Drogendealern auf der anderen Seite. Dabei wurde einer der Drogendealer mit einem Messer verletzt. Bisher hieß es, der Messerstecher sei Mohamad K. gewesen, der deshalb auch verurteilt wurde und ebenfalls in der JVA Moabit einsitzt. Doch bei der UA-Sitzung letzten Freitag erklärte Mohammed D., der Messerstecher sei Amri gewesen, Mohamad K. habe ihm das Messer aus der Hand nehmen wollen. Er blieb auch trotz mehrerer Nachfragen bei dieser Version. Mehr noch: Er habe das genauso auch gegenüber der Polizei ausgesagt, wie jetzt hier im Ausschuss, so D.

Seltsam ist gleichwohl, dass der Verletzte nicht Amri als Täter angegeben, und dass Mohamad K. die Tat gestanden haben soll. Doch egal, ob er oder Amri der Messerstecher war, der Tatvorwurf der gemeinsamen gefährlichen Körperverletzung traf beide sowie Mohammed D. Bereits Grund genug für ein Verfahren.

Dennoch ist die Frage aufgeworfen, ob Amri möglicherweise vom Vorwurf der direkten Täterschaft entlastet wurde. Damit würde sich eine Parallele zum Umgang der Ermittler mit Amris Drogengeschäften auftun. "Gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel" hatte die Polizei bei Amri festgestellt. Diese Erkenntnis wurde nach dem Anschlag umgeändert in "möglicherweise Kleinsthandel mit Betäubungsmittel" und mit zurückdatiertem Datum in die Akten geschmuggelt. Eine Manipulation, die der Amri-Sonderermittler Bruno Jost aufdeckte und die bis heute Gegenstand von Verfahren gegen mehrere LKA-Beamte ist. Gab es vielleicht eine ähnliche Manipulation durch die Polizei bezüglich Amri also auch bei der Messerstecherei? Wurde Amri geschützt?

Dass Amri bei der Schlägerei dabei war, wussten die Ermittler aus der Telefonüberwachung des Mannes, der damals seit Monaten als Gefährder eingestuft war. Doch das LKA führte Amri nur als "Tatbeteiligten", nicht als Haupttäter, und sah deshalb von einem Haftbefehl ab. Wurde sein Tatbeitrag abgeschwächt, um ihn im August 2016 nicht festsetzen zu müssen? Wollte man ihn weiter frei herum laufen lassen, so die Frage, die sich wiederholt aufdrängt, weil man einen bestimmten Zweck verfolgte? Etwa, weil man Amri als "Nachrichtenmittler", als polizeiliche Quelle sozusagen, ohne sein Wissen anzapfte, um Informationen über islamistische Kreise zu erhalten.

Zwei Tage nach dem Anschlag, am 21. Dezember 2016, machte der Generalstaatsanwalt von Berlin in einer Pressemitteilung selber auf das Wissen der Ermittler um den Vorfall in der Sisha-Bar aufmerksam. Die Erkenntnisse seien damals den "zuständigen Fachdienststellen" weitergeleitet worden, um eine "Strafverfolgung zu ermöglichen".

Doch in derselben Mitteilung findet sich dann eine veritable Desinformation, wie man inzwischen beurteilen kann. Die Überwachungsmaßnahmen, ist zu lesen, hätten "im September 2016 beendet werden müssen", weil keine "Grundlage für eine weitere Verlängerung bestand". Doch nicht nur die Beteiligung an einer gefährlichen Körperverletzung war aktenkundig, sondern auch der gewerbsmäßige Drogenhandel und Amris eigener Drogenkonsum. Versuchte der Generalstaatsanwalt zu verschleiern, dass er die Beendigung der Telefonüberwachung mit zu verantworten hatte?

Wie dubios die Sache mit der Sisha-Bar ist, zeigte sich auch bei den Strafverfahren gegen Mohamad K und Mohammed D. Im März 2017 sprach die Staatsanwaltschaft von vier Tätern, von denen einer noch nicht identifiziert sei. Als der Prozess im Juni 2017 begann, war aber nur noch von drei Tätern die Rede.

Aufklärungsbedarf genug also. Dazu zählt auch die Auskunft des Zeugen D., er wisse von Amri, dass der mindestens einmal in Berlin von der Polizei festgenommen und wieder laufen gelassen wurde. An den Zeitpunkt konnte sich D. nicht erinnern. Ob es sich um Amris kurzzeitige Festnahme nach seiner Anreise in einem Bus aus Nordrhein-Westfalen am 18. Februar 2016 handelte, ist fraglich, denn D. und Amri trafen sich erst Monate später.

Nach der Auseinandersetzung in der Sisha-Bar sei Amri ausgezogen, er habe ihn nur noch ab und zu gesehen, aber auch getroffen.

"ich nie gefühlt, gespürt oder gemerkt", dass er sich radikalisiert hat

Im Übrigen beschrieb Mohammed D. den mutmaßlichen Attentäter zwar als religiös, aber eher als normal und friedfertig. Ein Bild, das freilich nicht so ganz zum Drogenhandel und zur Messerstecherei in der Sisha-Bar passt. Amri wollte viel Geld verdienen, eine Familie gründen und zurück in die Heimat gehen, so D. Alkohol- oder Drogenkonsum habe er bei ihm nie erlebt. Über Deutschland oder Christen habe er sich nie geäußert, weder negativ noch positiv.

Untersuchungsausschuss (UA): Gab es Anzeichen, dass er sich radikalisiert?

Zeuge Mohammed D.: Das habe ich nie gefühlt, gespürt oder gemerkt.

UA: Haben Sie eine Vorstellung, warum jemand, der eine Familie gründen will, so einen Anschlag begeht?

Zeuge: Das habe ich nie verstanden und verstehe es immer noch nicht.

UA: Wer könnte Amri bei dem Terroranschlag geholfen haben?

Zeuge: Bei Gott, ich weiß es nicht.

UA: Glauben Sie, dass er alleine gehandelt hat?

Zeuge: Meiner Meinung nach hat er es vielleicht alleine gemacht.

UA: Haben Sie eine Idee, was seine Gründe waren?

Zeuge: Auch das kann ich Ihnen nicht genau sagen.

Anis Amri war der islamistische Gefährder, der im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden am öftesten Thema war. Dasselbe galt für die Sicherheitskonferenz, einer analogen Einrichtung des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen. Amri sei dort "regelmäßig besprochen" worden, erklärte eine zuständige Beamtin des LKA in Düsseldorf. Er sei einer derjenigen gewesen, auf die man ein Hauptaugenmerk gelegt hatte mit dem Ziel, ihn möglichst schnell abzuschieben.

Warum wurde ausgerechnet eine Person, die derart unter Beobachtung stand, zum mutmaßlich Verantwortlichen für den Anschlag auf dem Breitscheidplatz?

"Den PIN-Code des Handys kannte Herr Bilel nicht genau"

Vielleicht erklärt die Brisanz dieser Frage den irritierenden Auftritt einer Beamtin des Berliner Staatsschutzes vor den Abgeordneten. Seit Zeugen bei offenen Vertuschungsversuchen vor dem Ausschuss ertappt wurden, werden keine Namen mehr mitgeteilt, lediglich die Initiale des Nachnamens. "Frau B." stellte gleich zu Beginn den Antrag, die Öffentlichkeit komplett auszuschließen. Sie sehe keinen Bereich, wo die Öffentlichkeit dabei sein sollte, erklärte sie. Doch der Ausschuss sah das anders und befragte sie zunächst öffentlich, ehe eine geschlossene Runde folgte.

Die Beamtin antwortete unsicher, geradezu verängstigt, versuchte substanzielle Auskünfte zu vermeiden. Immer wieder beriet sie sich lange mit ihrem Rechtsbeistand, um dann doch nur zu antworten, sie erinnere sich nicht. Wiederholt beantragte der Rechtsanwalt, Fragen als unzulässig zurückzuweisen, einmal mit Erfolg. Mehrere Fragen wollte die Zeugin B. nur in der nicht-öffentlichen Sitzung beantworten, unter anderem die, was sie in den Jahren vor ihrem Eintritt in den Staatsschutz beruflich tat. Aber auch die, welche andere Aliaspersonalie Amri ihr gegenüber noch benutzte.

Verhält sich so eine Dienststelle, die aufklären will?

Die Staatsschützerin war mit Amri befasst, nachdem der am 18. Februar 2016 nach seiner Ankunft in einem Fernbus in Berlin kurzzeitig festgenommen und sein Handy beschlagnahmt wurde. In ihrem Bericht darüber findet sich ein Satz, über den die Abgeordneten seit längerem rätseln: "Den PIN-Code des Handys kannte Herr Bilel nicht genau." Wer ist Herr Bilel? Hat er Amri auf der Fahrt nach Berlin begleitet? Könnte es sich um Amris Bekannten Bilel Ben Ammar gehandelt haben?

"Bilel" sei ein Schreibfehler ihrerseits, so Frau B., gemeint sei Amri, der sich damals aber unter dem Falschnamen Al Masri vorstellte. Mit einem Herrn Bilel habe sie an dem Tag nicht zu tun gehabt, Amri sei auch nicht in Begleitung gewesen.

Mag sein, dass die Antwort tatsächlich zutrifft, doch weder sind damit die Fragen um die Person Bilel Ben Ammar beseitigt noch die genauen Vorgänge an jedem 18. Februar 2016.

Warum soll der enge Zusammenhang von Ben Ammar und Amri verwischt werden?

Bilel Ben Ammar war an der Seite Amris vom ersten bis zum letzten Tag seiner Zeit in Deutschland. Nach dem Anschlag stand er unter Mordverdacht, wurde am 1. Februar 2017 aber nach Tunesien abgeschoben.

Heute, nach einem Jahr der Aufklärungsbemühungen, weiß man, dass auch die Person Ben Ammar behördlicherseits massiv verschleiert wird. Im Januar 2017 schrieb die Süddeutsche Zeitung (SZ) unter Berufung auf die Ermittler, anzunehmenderweise des BKA, Ben Ammar sei im Herbst 2014 nach Deutschland gekommen, Amri erst ein Jahr später. Tatsächlich sollen beide zusammen sowie ein Habib S. im Juli 2015 nach Deutschland eingereist sein. Das steht in einem Behördenzeugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vom Januar 2016. Man kann davon ausgehen, dass das für die Bundesanwaltschaft tätige BKA diese BfV-Information kannte. Es hätte demnach die SZ falsch informiert, und die Frage stellt sich: Warum soll der enge Zusammenhang von Ben Ammar und Amri verwischt werden?

Gehörte Ben Ammar zum Täterkreis? Auf seinem Handy stellten die Ermittler Videoaufnahmen vom Anschlagsort Breitscheidplatz sicher, die bereits im Februar 2016, Monate vor der Tat, gemacht worden waren. Laut Ermittler, so die SZ im Januar 2017 weiter, habe Ben Ammar behauptet, nicht er habe die Aufnahmen gemacht, sie seien ihm zugeschickt worden. Die Ermittler glaubten ihm das. Und die SZ glaubt es den Ermittlern.

Die Bundesanwaltschaft willigte in die schnelle Abschiebung Ben Ammars ein. Und das, obwohl wiederholt deutsche Verwaltungsgerichte Abschiebungen nach Tunesien abgelehnt haben, weil in dem Land Folter und Todesstrafe drohten.

Wollte sich die oberste Anklagebehörde der BRD mit der Abschiebung eines Verdächtigen einen neuen "NSU-Prozess" vom Hals halten? Könnte Ben Ammar gar etwas mit den V-Personen zu tun gehabt haben, die sich um den Fall Amri herum bewegten?

Als Amri am 18. Februar 2016 in Berlin festgenommen wurde, war das LKA von Nordrhein-Westfalen (NRW) verärgert, weil dadurch, so ein Zitat aus den Akten, der "weitere Einsatz der VP gefährdet" sei. Mit "VP" ist ein Informant der Polizei gemeint. Wer konkret, weiß man bisher nicht. Hypothetisch könnte es auch Bilel Ben Ammar gewesen sein, denn Amri hatte auf der Fahrt unterwegs in Hannover einen "Bilel" getroffen.

Bekannt ist bisher die V-Person "Murat", auch "VP 01" genannt. Auch sie könnte hypothetisch jene VP gewesen sein, deren Einsatz durch Amris Festnahme gefährdet wurde. Sowohl die "VP 01 Murat", als auch Bilel Ben Ammar, sind inzwischen mit einem regelrechten behördlichen Tabu belegt.

"Murat" ist im Staatsschutzverfahren gegen die Abu Walaa-Gruppe vor dem Oberlandesgericht Celle ein Zeuge der Anklage. Abu Walaa soll Amri seinen Segen zum Anschlag erteilt haben. "Murat" bespitzelte die Gruppe. Er darf aber nicht persönlich von den Richtern vernommen werden. An seiner Stelle sagte der VP-Führer des LKA NRW aus. Ein mehr als fragwürdiges Verfahren, das das "erkennende Gericht" akzeptiert hat. Staatsschutz vor Erkenntnis sozusagen.

Wie im NSU-Skandal werden die Schauplätze, auf denen sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Hintergründe des Anschlages vom Breitscheidplatz abspielen, mehr. Neben den Untersuchungsausschüssen in Düsseldorf und Berlin gibt es zwei Prozesse in Celle und Berlin, einmal gegen die Abu Walaa-Gruppe, im zweiten Fall gegen vier Mitglieder der Fussilet-Moschee, in der sich Amri oft aufhielt. Und nun gibt es mit dem Amri-Ausschuss im Bundestag bereits den fünften derartigen Schauplatz. Er wird nächste Woche zunächst mit dem Opferbeauftragten Kurt Beck zusammenkommen. Im April beginnen die öffentlichen Sitzungen. Seine Aufgabe ist es vor allem, die Bundesbehörden zu hinterfragen, sprich: BKA, Bundesanwaltschaft, Bundesamt für Verfassungsschutz.